Wer eine Krebsdiagnose erhält, steht vor einer komplett veränderten Lebenssituation und muss sein Leben neu ordnen – begleitet von Ängsten und zahlreichen Fragen. Im Interview erklärt lic. phil. Andrea Rotter, Leitende Psychologin und Leiterin Ambulante Dienste Bern der Privatklinik Wyss AG, weshalb Psychoonkologie eine wichtige Stütze im Kampf gegen den Krebs darstellt.
Frau Rotter, was versteht man unter dem Begriff Psychoonkologie?
Die Psychoonkologie befasst sich mit der psychologischen Betreuung von Krebspatientinnen und Krebspatienten. Dabei geht es darum, diese Menschen bei ihrer Krankheitsverarbeitung (z. B. bei oft auftretenden Ängsten oder anderen Schwierigkeiten) zu unterstützen.
Welche Methoden werden in der Psychoonkologie angewendet?
Die Psychoonkologin und der Psychoonkologe sind ausgebildete Psychotherapeuten mit einer Zusatzqualifikation für psychoonkologische Beratung. Die Ansätze können folglich verhaltenstherapeutisch, systemisch und oft auch integrativ sein. Häufig werden körperzentriete Ansätze berücksichtigt, z. B. Entspannungsverfahren und Atemtechniken. In Bezug auf den Umgang mit Ängsten werden auch Imaginationsverfahren oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Methoden angewandt.
Wie kann Psychoonkologie Krebsbetroffenen helfen?
Bei der psychoonkologischen Therapie geht es darum, Patientinnen und Patienten in ihrem psychischen Wohlbefinden zu stützen. Wenn Betroffene einen guten Umgang mit ihren Ängsten finden, ein Gefühl der Selbstwirksamkeit entwickeln und eine angepasste Selbstfürsorge betreiben können, sorgen sie für die bestmöglichen Bedingungen, um die kräftezehrende Behandlung zu bewältigen. Die Aufgabe der Psychoonkologie ist es, Betroffene genau in diesen Bereichen zu unterstützen. Denn die onkologische Behandlung bringt neben den psychischen Belastungen je nach Verlauf auch erhebliche körperliche Einschränkungen mit sich. Daher kann unter Umständen nicht auf die üblichen Ressourcen zurückgegriffen werden, da man nicht über die bisherigen Kräfte und Fähigkeiten verfügt. So müssen vorhandene Strategien angepasst oder neue Möglichkeiten entwickelt werden.
Weshalb ist die Psychoonkologie ein wichtiger Teil der Krebstherapie?
Die onkologische Behandlung ist nicht nur körperlich kräftezehrend, sondern auch psychisch belastend. Um diesen oft komplexen und lange andauernden Behandlungsprozess durchzustehen, gilt es für die Betroffenen, ihre Selbstfürsorge-Strategien zu optimieren.
Was ist das Ziel dieser Therapieform?
Es gilt, Patientinnen und Patienten in sämtlichen Stadien der Erkrankung psychisch zu unterstützen. Dies kann z. B. bei der Diagnoseeröffnung der Fall sein, welche oft mit einem Schock einhergeht. Während des Verlaufs der Erkrankung geht es oft darum, einen guten Umgang mit existentiellen Ängsten zu finden, oder beim Abschluss der somatischen Behandlung kann dies die Begleitung bei der beruflichen Wiedereingliederung bedeuten. In nicht-kurativen Situationen wird die Patientin oder der Patient nach Bedarf auch in der Sterbephase begleitet, wobei oft die Angehörigen ein weiterer Teil des Therapiesettings sind.
Für wen und ab wann wird eine psychoonkologische Betreuung empfohlen?
Oft wird eine psychoonkologische Beratung empfohlen, wenn Betroffene einen hohen psychischen Leidensdruck haben, Ängste nur schwer aushalten oder bei gewissen Themen nicht weiterkommen (z. B. Einbezug der Kinder/Verwandten, Sexualität oder beruflicher Wiedereinstieg). Das Angebot kann aber auch lediglich für informative Zwecke in Anspruch genommen werden, um Fragen wie «Wann verliere ich meine Haare?» oder «Wie läuft eine Strahlentherapie ab?» zu klären.
Wo wird die Psychoonkologie angeboten?
Wir bieten die psychoonkologische Beratung für Patientinnen und Patienten der Lindenhofgruppe in Bern an oder für alle anderen direkt bei uns am Ambulanten Dienst der Privatklinik Wyss. Die Bernische Krebsliga bzw. die Schweizerische Krebsliga verfügt über ein Register mit Psychoonkologinnen, damit man ortsnah Zugang zum Angebot finden kann.
Wer trägt die Kosten für die psychoonkologische Betreuung einer Patientin oder eines Patienten?
Wenn das psychoonkologische Angebot durch Fachpsychologinnen und Fachpsychologen getragen wird, laufen die Behandlungskosten – wie seit dem 1. Juli 2022 bei allen Fachpsychologinnen und Fachpsychologen in der Schweiz durch eine ärztliche Anordnung – über die Grundversicherung.
Die Privatklinik Wyss ist eine führende Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit einem Leistungsauftrag in der Grundversorgung im Kanton Bern. Gegründet im Jahr 1845, ist sie die älteste psychiatrische Privatklinik der Schweiz. Zu den besonderen Kompetenzbereichen gehört die Behandlung von Depressionen inklusive Burnout sowie Angst- und Zwangsstörungen. Die Klinik bietet ihre ambulanten, tagesklinischen und stationären Leistungen in den Regionen Bern, Münchenbuchsee und Biel an. Die Privatklinik Wyss bietet ein breites Angebot an Aus- und Weiterbildungen an und beschäftigt ein interprofessionelles Team aus rund 340 Mitarbeitenden.
lic. phil. Andrea Rotter
Leitende Psychologin
Leiterin Ambulante Dienste Bern