Interview mit Dipl. Arzt Patrick Haberstich, Leitender Arzt Kindernotfall / Notfallpraxis, Kantonsspital Aarau
Erstickungsnotfälle gehören zu den dramatischsten Situationen im Alltag – und sie können jeden treffen, ob Kind oder Erwachsener. Besonders häufig passieren sie in der Küche, am Esstisch oder beim Spielen. Was im Körper passiert, wenn Essen im Hals stecken bleibt, und wie man richtig reagiert, erklärt Dipl. Arzt Patrick Haberstich, Leitender Arzt der Kindernotfall- und Notfallpraxis am Kantonsspital Aarau. Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Kindernotfall- und Intensivmedizin weiss, wie entscheidend schnelles und richtiges Handeln sein kann.
- Was passiert im Körper, wenn Essen im Hals stecken bleibt?
- Woran erkennt man, ob jemand wirklich zu ersticken droht oder sich nur «verschluckt» hat?
- Wann sollte man den Notruf 144 wählen – und was sagt man dort am besten?
- Wie funktioniert der Heimlich-Griff und darf man ihn bei jedem anwenden?
- Welche Fehler machen Laien häufig, wenn sie versuchen, einem Erstickenden zu helfen?
- Wie unterscheiden sich die Massnahmen bei Erwachsenen, Kindern und Säuglingen?
- Wie kann man sich selbst helfen, wenn man allein ist und zu ersticken droht?
- Welche Rolle spielen Grunderkrankungen bei Erstickungsnotfällen?
- Wann ist eine medizinische Nachsorge notwendig?
- Wie lässt sich Erstickungsgefahr beim Essen vorbeugen – besonders bei Kindern und älteren Menschen?
- An welchen Lebensmitteln verschlucken sich Menschen besonders häufig und warum?
Herr Haberstich, was passiert im Körper, wenn Essen im Hals stecken bleibt?
Man muss grundsätzlich zwischen Ingestion und Aspiration unterscheiden. Bei einer Ingestion bleibt ein Nahrungsmittel oder ein Fremdkörper – etwa eine Batterie oder ein Magnet – im Verdauungstrakt stecken.
Bei einer Aspiration hingegen gelangt etwas in die Atemwege, also in die Luftröhre statt in die Speiseröhre. Das kann zum Beispiel bei Nüssen, Karotten oder Wursträdchen («Wienerli») passieren. Zunächst löst das Würgen und Hustenreiz aus. Wenn der Fremdkörper aber den Luftweg vollständig blockiert, tritt nach 10 bis 20 Sekunden Bewusstlosigkeit ein. Bleibt die Blockade bestehen, kommt es nach etwa ein bis zwei Minuten zu Atem- und Kreislaufstillstand.
Woran erkennt man, ob jemand wirklich zu ersticken droht oder sich nur «verschluckt» hat?
Solange die betroffene Person noch ansprechbar ist und aktiv husten kann, handelt es sich um ein einfaches Verschlucken. Tritt jedoch starke Atemnot auf, kann die Person nicht mehr husten oder keine Laute mehr von sich geben, besteht akute Lebensgefahr – dann ist sofortiges Handeln erforderlich.
Wann sollte man den Notruf 144 wählen – und was sagt man dort am besten?
Immer dann, wenn sich der Zustand verschlechtert: Der Husten wird schwächer, die Person kann keine Laute mehr von sich geben, die Atmung wird flach oder setzt aus, oder das Gesicht läuft blau an.
Wichtige Angaben beim Notruf:
- Wo ist der Notfall? (Ort, Strasse, Hausnummer, Stockwerk)
- Wer ruft an? (Name und Rückrufnummer)
- Was ist passiert? (Sind Sie beim Patienten)
- Wann ist es passiert? (Zeitpunkt des Notfalls)
- Wie viele Personen sind betroffen? (Alter, Bewusstseinszustand, Atmung)
- Weitere Hinweise, etwa Gefahren am Einsatzort.
Wie funktioniert der Heimlich-Griff und darf man ihn bei jedem anwenden?
Man stellt sich hinter die betroffene Person und legt die Arme um den oberen Bauch, zwischen Rippenbogen und Bauchnabel. Der Oberkörper der Person sollte leicht nach vorn gebeugt sein. Mit einer Hand bildet man eine Faust und platziert sie zwischen Brustkorb und Nabel. Mit der anderen Hand umfasst man die Faust und zieht sie kräftig nach innen oben – bis zu fünfmal wiederholen.
Wichtig: Der Heimlich-Handgriff darf nicht bei Kindern unter einem Jahr angewendet werden, da sonst innere Verletzungen drohen.
Welche Fehler machen Laien häufig, wenn sie versuchen, einem Erstickenden zu helfen?
Viele geraten in Panik oder wissen nicht genau, was zu tun ist. Ein häufiger Fehler ist der Versuch, den Fremdkörper mit den Fingern aus dem Hals zu holen, obwohl dieser bereits zu tief steckt – das kann die Situation noch verschlimmern.
Der Heimlich-Griff – so funktioniert’s
- Hinter die betroffene Person stellen.
- Arme um den oberen Bauch legen, zwischen Rippenbogen und Bauchnabel.
- Oberkörper leicht nach vorn beugen.
- Eine Faust bilden und zwischen Brustkorb und Nabel platzieren.
- Mit der anderen Hand umfassen und kräftig nach innen oben ziehen.
- Bis zu fünfmal wiederholen.
- Wichtig: Bei Kindern unter 1 Jahr nicht anwenden – Gefahr innerer Verletzungen!
Wie unterscheiden sich die Massnahmen bei Erwachsenen, Kindern und Säuglingen?
Grundsätzlich beginnt man immer mit fünf kräftigen Rückenschlägen (Back Blows). Bei Säuglingen unter einem Jahr folgen anschliessend fünf Brustkorbkompressionen. Bei Kindern über einem Jahr und Erwachsenen wird das Heimlich-Manöver angewendet.
Wie kann man sich selbst helfen, wenn man allein ist und zu ersticken droht?
Zunächst sollte man versuchen, kräftig zu husten. Wenn das nicht gelingt, kann man das Heimlich-Manöver auch an sich selbst durchführen: Eine Faust zwischen Brustkorb und Bauchnabel platzieren, mit der anderen Hand umfassen und kräftig nach innen oben drücken.
Welche Rolle spielen Grunderkrankungen bei Erstickungsnotfällen?
Bestimmte Erkrankungen wie Schluckstörungen, neurologische oder psychiatrische Erkrankungen erhöhen das Risiko. Bei Säuglingen und Kleinkindern kommt hinzu, dass sie neugierig alles mit dem Mund erkunden und Gefahren noch nicht einschätzen können. Zudem ist ihr Schluck- und Beissreflex noch unkoordiniert – und sie haben oft noch nicht alle Zähne.
Wann ist eine medizinische Nachsorge notwendig?
Nach einem durchgeführten Heimlich-Manöver oder Brustkompressionen sollte die betroffene Person immer ärztlich untersucht werden – auch wenn sie sich danach wieder gut fühlt. Innere Verletzungen oder Reizungen können unbemerkt bleiben.
Wie lässt sich Erstickungsgefahr beim Essen vorbeugen – besonders bei Kindern und älteren Menschen?
Eine ruhige Essumgebung ist entscheidend. Niemand sollte gehetzt oder im Gehen essen. Speisen sollten kindgerecht geschnitten werden – beispielsweise Wienerli längs halbieren, nicht in Scheiben («Rädli») schneiden. Langsam essen, gut kauen, im Sitzen und ohne Ablenkung.
An welchen Lebensmitteln verschlucken sich Menschen besonders häufig und warum?
Bei kleinen Kindern sind es oft Karotten, Nüsse, Samen, Trauben, Apfelstücke oder Würstchen – meist, weil die Stücke zu gross oder zu hart sind oder beim Spielen im Mund landen. Aber auch Fremdkörper wie Batterien, Magnete oder kleine Nägel kommen vor. Bei Jugendlichen und Erwachsenen können zudem absichtlich verschluckte Gegenstände – etwa Rasierklingen oder Messer – eine Rolle spielen.

Dipl. Arzt Patrick Haberstich
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