Ganzheitliche Therapie an der Kletterwand: Neue Wege in der Rehabilitation

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Klettern, Kletterhalle
Klettern, Kletterhalle
Quelle: TCS MyMed

Klettern ist nicht nur ein beliebter Sport, sondern auch eine effektive Therapieform, die Menschen aller Altersgruppen bei der Genesung unterstützt. Therapeutisches Klettern kombiniert die körperlichen Herausforderungen des Sports mit gezielten therapeutischen Ansätzen, um Kraft, Beweglichkeit und mentale Stärke zu fördern. Doch was macht diese Methode so besonders und welche Beschwerden lassen sich damit behandeln? Wir haben mit Experten gesprochen, um die Vorteile und Perspektiven des therapeutischen Kletterns zu beleuchten.

Was genau ist Therapeutisches Klettern und welche Vorteile bietet es gegenüber traditionellen Rehabilitationsmethoden? 
Das Therapeutisches Klettern ist eine Therapiemethode, bei der die Kletterwand und die klettertypischen Bewegungen gezielt für therapeutische Effekte genutzt werden. Besonders bei muskuloskelettalen und neurologischen Erkrankungen sowie funktionellen Einschränkungen ermöglicht diese Methode, verschiedene Aspekte effektiv zu fördern:

  • Kraft und Gelenkstabilität 
  • Beweglichkeit 
  • Koordination
  • Reich-, Greif- und Haltefunktionen von Arm und Hand
  • Gleichgewicht
  • Schmerzreduktion und Umgang mit Schmerz.

Darüber hinaus bietet Therapeutisches Klettern bei psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen wertvolle Ansätze, um Verhaltensmuster zu erkennen und neue Erfahrungen zu machen. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit Gedanken, Gefühlen und körperlichen Signalen wird die Selbst- und Körperwahrnehmung geschult. Die Methode unterstützt zudem die Diagnostik: Bewegungsmuster an der Kletterwand können Schwachstellen im Körper aufzeigen, die möglicherweise Beschwerden auslösen. Zum Beispiel: Untere Rückenbeschwerden sind vielleicht die Folgen von einer Hüfte, die zwar keine Schmerzen bereitet, die sich jedoch nicht vollumfänglich öffnen kann. 

Da das Klettern Spass macht, sind das Training und der therapeutische Aspekt sehr effektiv!

Welche spezifischen gesundheitlichen Probleme oder Beschwerden können durch Therapeutisches Klettern besonders gut behandelt werden?
Therapeutisches Klettern ist eine vielseitige Therapieform, die bei verschiedenen gesundheitlichen Beschwerden und Einschränkungen Anwendung finden kann. Besonders effektiv ist diese Methode bei Instabilitäten der Fussgelenke und des Fussgewölbes, Hüftarthrose, Instabilitäten der Lendenwirbelsäule wie Bandscheibenvorfällen oder Gleitwirbeln sowie muskulären Ungleichgewichten im Rücken. Sie hilft zudem bei Rumpfinstabilität, Beckenbodendefiziten, Gelenkbeschwerden wie Kreuzbandrissen, Skoliose und Morbus Scheuermann.

Bei kognitiven Defiziten und neurologischen Erkrankungen wie Hemiparesen, Hemiplegien und Multiple Sklerose (MS) ausserhalb von Schüben kann Therapeutisches Klettern eine positive Wirkung entfalten. Psychische Beschwerden wie Depressionen, Burnout, Angst- und Zwangsstörungen sowie AD(H)S und somatoforme Störungen sprechen ebenfalls gut auf diese Therapie an. Auch beim Autismusspektrum kommt sie zur Anwendung. Dabei ist Therapeutisches Klettern altersunabhängig und eignet sich sowohl für Kinder ab etwa 4 Jahren als auch für ältere Menschen.

Gibt es Kontraindikationen, die Therapeutisches Klettern ausschliessen?
Ja, dazu zählen frische Operationen und offene Wunden, akute Infekte, MS während eines Schubs, die Anfangsphase von Morbus Bechterew, die Akutphase nach einem Schlaganfall sowie schwere Herz-Kreislauf- oder Lungenerkrankungen. Auch bei einer akuten Diskushernie mit neurologischen Symptomen sollte auf diese Therapieform verzichtet werden.
Relative Kontraindikationen wie ein erhöhtes Verletzungsrisiko, Osteoporose, Gerinnungsstörungen oder ein hohes Epilepsierisiko erfordern besondere Vorsicht. Im Zweifelsfall sollte immer eine ärztliche Abklärung erfolgen, um mögliche Risiken zu minimieren und die Therapie individuell abzustimmen.

Können Sie näher erläutern, wie Klettern die Körperwahrnehmung, Koordination und Beweglichkeit fördert und warum dies besonders für die Rehabilitation nach Unfällen oder Operationen vorteilhaft ist? 
Klettern ist eine ganzheitliche Bewegungsform, die den gesamten Körper von den Fingerspitzen bis zu den Zehen einbezieht. Die nicht isolierte Beanspruchung der Muskelketten verbessert die Koordination und stärkt die Körperspannung. Zielgerichtete Bewegungen fördern die Beweglichkeit der Gelenke und helfen dabei, funktionale Defizite gezielt zu trainieren.

Die Konzentration auf die eigene Bewegung im «Hier und Jetzt» schärft die Körperwahrnehmung und unterstützt den mentalen Fokus. Durch den Spassfaktor wird zudem die Motivation gesteigert, was den Therapieerfolg nachhaltig beeinflusst.

Gibt es medizinische Studien oder wissenschaftliche Belege, die die Wirksamkeit des therapeutischen Kletterns als Methode zur Rehabilitation unterstützen? 
Die Forschung zum therapeutischen Klettern wächst stetig. Erste Studien zeigen positive Ergebnisse, beispielsweise bei unspezifischen Rückenschmerzen, Schulterimpingement, Multipler Sklerose und Depressionen. Dennoch ist die Evidenz aufgrund der begrenzten Anzahl und Qualität der Studien noch eingeschränkt. Der Verband Therapeutisches Klettern Schweiz sammelt derzeit relevante Forschungsergebnisse, um die wissenschaftliche Basis der Methode weiter zu stärken.

Wie überwachen Sie den Fortschritt und die Sicherheit Ihrer Patientinnen und Patienten während der Therapieeinheiten? 
Unser Verband hat Sicherheitsstandards für das Therapeutische Klettern entwickelt, und es ist uns ein grosses Anliegen, dass diese Standards auch implementiert werden: Manual Sicherheit und Sicherung. Therapeuten dokumentieren den Therapieverlauf der Patientinnen und Patienten individuell, beispielsweise durch Protokolle oder Videoaufzeichnungen. Die Fortschritte werden mit Assessments, funktionellen Demos, subjektiven Gesundheitsparametern, Einschränkungen und Fähigkeiten bei Alltagsaktivitäten gemessen. Da liegen die Ziele der Therapie nicht beim «besseren Ausführen der Kletteraufgaben», sondern beim Transfer in den Alltag.

Inwiefern unterscheiden sich die Bedürfnisse und Ansprüche der Patientinnen und Patienten, wenn es um Therapeutisches Klettern im Vergleich zu herkömmlicher Physiotherapie geht? 
Die Therapieeinheiten im therapeutischen Klettern sind in der Regel länger als in der klassischen Physiotherapie. Patientinnen bzw. Patienten sind oft neugierig und erleben schnell Erfolgserlebnisse, unabhängig von ihren Einschränkungen. Dies führt zu einer hohen Akzeptanz und Motivation.

Was sind die langfristigen Ziele und die Vision für die Zukunft des therapeutischen Kletterns in der Schweiz und welche Unterstützung erhoffen Sie sich von der medizinischen Gemeinschaft für diese Methode? 
Der Verband Therapeutisches Klettern Schweiz wurde im Juni 2024 gegründet und hat folgende Visionen und Ziele. 

Visionen: 

  • Das Therapeutische Klettern als ein mögliches Therapieangebot etablieren mit entsprechender Abgeltung des Mehraufwands (Betreuungsverhältnis, Therapiedauer, Infrastrukturkosten). 
  • Spannende Forschungsfragen stellen und Durchführung aussagekräftiger Studien unterstützen, Evidenz erhöhen. 
  • Kongress für Therapeutisches Klettern veranstalten und internationale Vernetzung aufbauen.

Ziele: 

  • Fachlicher Austausch und Erweiterung unseres Wissens im Bereich Therapeutisches Klettern (TK). 
  • Definieren von Sicherheitsstandards im Setting Therapeutisches Klettern an künstlichen Kletteranlagen. 
  • Zusammentragen und zur Verfügung stellen von Informationen rund um das Therapeutische Klettern.
  • Anbietende Therapeutinnen und Therapeuten sowie Institutionen, Sicherheit, Kletterwandbau, an besondere Bedürfnisse angepasste Kletterangebote, Fortbildungsmöglichkeiten für Fachpersonen.

Erhoffte Unterstützung von der medizinischen Gemeinschaft:

  • Die angemessene finanzielle Abgeltung von Einzeltherapie und Kleingruppe. 
  • Verständnis und Anerkennung, dass es sich um eine gezielte, individuelle Methode handelt und nicht einfach «um Klettern als Sport, das hoffentlich therapeutische Effekte hat».

Wie passen Sie die Übungen an die individuellen Bedürfnisse an? 
Durch die Grösse und Form der Klettergriffe und Klettertritte sowie die Einstellung der Wandneigung können wir die Dosierung und Intensität der Übung individuell anpassen. Weitere Adaptionen wären z.B. Übungsdauer, Unterstützung durch Seilzug, Erschwernis durch Schliessen der Augen.

Welche Rolle spielt das mentale und emotionale Wohlbefinden Ihrer Patientinnen und Patienten während der Klettertherapie und wie wird dies in den therapeutischen Prozess eingebunden? 
Das emotionale Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten hat einen hohen Stellenwert. Jede Einheit beginnt mit einer Reflexion des aktuellen Zustands und der Definition individueller Ziele. Der therapeutische Prozess berücksichtigt stets die emotionalen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten und hat je nachdem auch zum Ziel, das emotionale oder mentale Wohlbefinden zu beeinflussen und zu verbessern!

Wie beurteilen Sie die Kooperation zwischen den klassischen medizinischen Therapien und der Klettertherapie? Gibt es hier Synergien, die den Heilungsprozess beschleunigen könnten?
Synergien sind auf jedem Fall erwünscht und oft sinnvoll. Vielleicht braucht es neben dem therapeutischen Klettern auch manuelle Therapie oder psychologische Unterstützung. Es kommt darauf an, welche Diagnose (durch Ärztin oder Arzt) und welche Beschwerden sowie Einschränkungen vorhanden sind. Bei der ersten Einheit ist deswegen eine Anamnese sehr wichtig, um die Ziele mit der Patientin bzw. dem Patienten zu besprechen und zu definieren. Je nachdem zeigt sich dann zu Beginn oder im Verlauf der Therapie, dass weitere medizinische Unterstützungen sinnvoll oder nötig sind, um die Ziele zu erreichen.

Wo können sich Personen melden, welche an dieser Therapieform interessiert sind und wie sieht es bezüglich der Kostenübernahme durch die Krankenkasse aus? 
Der Verband Therapeutisches Klettern Schweiz hat eine Karte mit den dem Verband bekannten Therapeutinnen und Therapeuten aufgeschaltet: Therapeutisches Klettern Schweiz. Was die Kostenübernahme durch die Krankenkasse angeht, muss sich die interessierte Person direkt bei der Therapeutin oder beim Therapeuten erkundigen.

Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft des therapeutischen Kletterns? 
Dass das therapeutische Klettern sowohl bei Ärztinnen, Therapeuten und Patientinnen bekannter wird. Zudem eine einheitliche und erweiterte Ausbildung für Therapeutisches Klettern in der Schweiz. Dass die Methode als solche in unserem Gesundheitssystem anerkannt wird, um die Patientinnen und Patienten finanziell zu entlasten. Und auch dass die Forschung gefördert und unterstützt wird und so auch mit wissenschaftlich fundierten Studien die guten Anwendererfahrungen belegt werden und wir immer mehr «evidenzbasiert» arbeiten können.

Verwenden Sie diese Informationen nicht als alleinige Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen. Fragen Sie bei gesundheitlichen Beschwerden Ihren Arzt oder Apotheker. Surfen im Internet ersetzt den Arztbesuch nicht.

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