
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko zu stürzen – oft mit schwerwiegenden Folgen für Gesundheit und Lebensqualität. Warum ältere Menschen besonders gefährdet sind, welche Rolle Muskelkraft, Medikamente und Wohnraumanpassungen spielen und wie man schon frühzeitig vorbeugen kann, erklärt Dr. med. Bernard Flückiger von den Adullam Spitälern in Basel. In diesem Interview gibt er praktische Tipps und erläutert, wie Bewegung, Alltagsübungen und moderne Hilfsmittel helfen können, die Sicherheit im Alter zu erhöhen.
- Warum steigt das Sturzrisiko mit zunehmendem Alter?
- Was sind die häufigsten körperlichen Ursachen für Stürze im Alter?
- Welche Übungen helfen Senioren, ihre Balance und Kraft zu verbessern?
- Ab wann sollte mit solchen Übungen begonnen werden?
- Wo können solche Ganganalysen durchgeführt werden?
- Welche Wohnraum-Anpassungen können das Sturzrisiko reduzieren?
- Spielt Übergewicht ebenfalls eine Rolle beim Sturzrisiko?
- Wie lässt sich die Sturzgefahr medizinisch einschätzen?
- Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um das Gehen sicherer zu machen?
- Welche Rolle spielen Medikamente bei Schwindel und Gangunsicherheit?
- Wie können Angehörige helfen, Stürze zu vermeiden?
- Was ist nach einem Sturz zu tun, um langfristige Folgen zu verhindern?
- Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Sturzprävention?
Herr Flückiger, warum steigt das Sturzrisiko mit zunehmendem Alter?
Mit zunehmendem Alter verändern sich Körperfunktionen, Organe und insbesondere die Muskulatur. Die Muskelkraft nimmt ab, ebenso die Koordination und das Gleichgewicht. Auch die Reaktionsgeschwindigkeit der Muskulatur verlangsamt sich. Zusätzlich können Sinnesstörungen wie Hör- oder Sehstörungen das Risiko für einen Sturz erhöhen. Diese Faktoren führen dazu, dass ältere Menschen deutlich anfälliger für Stürze sind als jüngere.
Was sind die häufigsten körperlichen Ursachen für Stürze im Alter?
Die Hauptursache liegt meist in der nachlassenden Muskelkraft – in der Medizin sprechen wir hier von Sarkopenie, dem altersbedingten Abbau von Muskelmasse. Auch die Verschlechterung des Gleichgewichts und der Koordination spielt eine grosse Rolle. Viele Betroffene berichten zudem über Schwindelgefühle oder ein Gefühl der Unsicherheit im Raum – sie beschreiben es manchmal als einen «komischen Kopf». Hinzu kommen altersbedingte Erkrankungen wie Gelenkprobleme, Parkinson oder kognitive Einschränkungen im Rahmen einer Demenz, die das Sturzrisiko zusätzlich erhöhen.
Welche Übungen helfen Senioren, ihre Balance und Kraft zu verbessern?
Es gibt eine Vielzahl an einfachen, aber effektiven Übungen, um Kraft und Gleichgewicht zu fördern. Wichtig ist, dass regelmässig trainiert wird – idealerweise drei Mal pro Woche. Dabei geht es nicht unbedingt um intensives Krafttraining, sondern eher um sanfte Bewegungsformen mit leichten Gewichten oder dem eigenen Körpergewicht. Spazierengehen gehört bereits dazu. Für die Koordination eignen sich Gleichgewichtsübungen wie der Einbeinstand oder der Tandemstand, bei dem ein Fuss direkt vor den anderen gesetzt wird. Auch spezielle Koordinationshilfen, wie instabile Unterlagen oder Balancekissen, können sinnvoll sein.
Ab wann sollte mit solchen Übungen begonnen werden?
Im Grunde kann und sollte man bereits in jungen Jahren damit beginnen, seine Muskelkraft und Koordination zu trainieren. Studien zeigen, dass Menschen, die schon früh Auffälligkeiten im Gangbild zeigen – gemessen zum Beispiel mit einem speziellen Gang-Teppich – im Alter ein deutlich höheres Sturzrisiko haben. Frühzeitige Prävention ist daher besonders wichtig.
Wo können solche Ganganalysen durchgeführt werden?
Solche Tests werden in spezialisierten Einrichtungen wie Mobilitätszentren oder geriatrischen Abteilungen grösserer Kliniken angeboten – beispielsweise im Felix-Platter-Spital in Basel. Auch neurologische Abteilungen oder logopädische Zentren führen teilweise Ganganalysen durch.
Welche Wohnraum-Anpassungen können das Sturzrisiko reduzieren?
Ein sicherer Wohnraum ist zentral für die Sturzprävention. Stolperfallen wie Teppiche oder lose Kabel sollten entfernt werden. Eine gute Beleuchtung in allen Räumen ist essenziell. Tiefe Betten stellen oft ein Problem dar – sie sollten so angepasst werden, dass man bequem aufstehen kann. Auch im Badezimmer kann mit rutschfesten Matten und Haltegriffen viel erreicht werden. Türschwellen sollten möglichst entfernt oder gut sichtbar markiert werden. Ebenso wichtig sind stabile Handläufe an Treppen – gerade beim Hinuntergehen haben viele ältere Menschen Unsicherheiten.
Spielt Übergewicht ebenfalls eine Rolle beim Sturzrisiko?
Ja, Übergewicht kann das Gleichgewicht zusätzlich beeinträchtigen und ist somit ebenfalls ein Risikofaktor. Es erhöht die körperliche Belastung und erschwert koordinative Bewegungen. Umso wichtiger ist es, mit gezieltem Training und, wenn nötig, auch Hilfsmitteln gegenzusteuern.
Wie lässt sich die Sturzgefahr medizinisch einschätzen?
Bereits einfache Tests können viel über das Sturzrisiko aussagen. Ein Beispiel ist der sogenannte Aufsteh-Test: Die betroffene Person steht mehrmals hintereinander von einem Stuhl auf, idealerweise ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Dauert dies ungewöhnlich lange oder ist Unterstützung nötig, spricht das für eine verminderte Muskelkraft. Auch die Handkraftmessung mit einem speziellen Gerät gibt Hinweise auf die generelle körperliche Stärke. Zusätzlich sollten Seh- und Hörvermögen regelmässig kontrolliert und gegebenenfalls mit Brillen oder Hörgeräten unterstützt werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Medikation – manche Arzneien, insbesondere Beruhigungs- oder Schlafmittel, erhöhen das Sturzrisiko deutlich durch Nebenwirkungen wie Schwindel oder verlangsamte Reaktionen.
Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um das Gehen sicherer zu machen?
Je nach Einschränkungsgrad gibt es unterschiedliche Hilfsmittel. Bei grösseren Schwierigkeiten sind sogenannte Gehböcke mit vier Standfüssen sehr hilfreich, da sie stabilen Halt bieten. Noch beweglicher ist man mit einem Rollator – bevorzugt mit vier Rädern, da dieser stabiler steht als ein Dreiradmodell. Leider scheuen sich manche Menschen, solche Hilfsmittel zu nutzen – oft aus Scham. Doch sie können entscheidend zur Sicherheit beitragen. Wichtig ist, dass der Rollator korrekt eingestellt ist, sonst besteht die Gefahr, dass er z. B. bei Parkinson-Patienten zu schnell vorrollt. Weitere nützliche Hilfen sind Gehstöcke, Greifzangen zum Aufheben von Gegenständen oder Treppenlifte für Menschen mit starker Mobilitätseinschränkung.
Welche Rolle spielen Medikamente bei Schwindel und Gangunsicherheit?
Medikamente sollten regelmässig überprüft werden – besonders in Bezug auf Nebenwirkungen wie Schwindel, Muskelschwäche oder Orientierungslosigkeit. Besonders problematisch sind manche Schlaf- und Beruhigungsmittel, die nachts eingenommen werden: Wenn sich Betroffene in der Dunkelheit orientieren müssen, etwa um zur Toilette zu gehen, kann das sehr gefährlich werden. Auch Blutverdünner stellen ein Risiko dar, wenn es z. B. zu einem Sturz auf den Kopf kommt – hier sind ärztliche Abklärungen besonders wichtig.
Wie können Angehörige helfen, Stürze zu vermeiden?
Angehörige spielen eine wichtige Rolle. In manchen Fällen werden sie aktiv einbezogen – etwa bei Wohnraumchecks: Sie erhalten eine Kamera und fotografieren die Wohnumgebung, damit Fachpersonen gezielt Verbesserungsvorschläge machen können. Ausserdem sollten Angehörige zur Bewegung motivieren – etwa durch gemeinsame Spaziergänge oder leichte Übungen. Auch regelmässige Begleitung zu Arzt- oder Physiotherapieterminen kann hilfreich sein.
Was ist nach einem Sturz zu tun, um langfristige Folgen zu verhindern?
Nach jedem Sturz sollte abgeklärt werden, ob eine Fraktur oder andere Verletzung vorliegt – insbesondere bei bekannter Osteoporose. Auch die Medikamentenliste sollte überprüft werden. In Spitälern oder Pflegeheimen gibt es dafür standardisierte Sturzprotokolle, um Ursachen zu identifizieren und gezielt zu beseitigen. Besonders wichtig: Viele Betroffene entwickeln nach einem Sturz Angst, erneut zu stürzen – das sogenannte Post-Fall-Syndrom. Diese Angst kann dazu führen, dass sich die Person weniger bewegt, was wiederum den Muskelabbau beschleunigt. Daher ist es entscheidend, Betroffene rasch wieder zu aktivieren.
Gibt es neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Sturzprävention?
Ja, aktuelle Studien bestätigen, dass regelmässiges, leichtes Krafttraining – etwa drei- bis viermal pro Woche – effektiv ist. Ebenso wichtig ist eine ausreichende Eiweisszufuhr über die Ernährung, um den Muskelaufbau zu unterstützen. Eine interessante Entwicklung sind sogenannte «Exergames»: interaktive Bewegungsspiele mit Bildschirmunterstützung, bei denen Bewegungen direkt vor dem Bildschirm nachgeahmt werden. Studien zeigen, dass diese spielerischen Übungen die Sturzhäufigkeit deutlich senken oder zumindest hinauszögern können. Sie sind eine gute Möglichkeit, körperliche Aktivität mit Freude und Motivation zu verbinden – auch im hohen Alter.

Dr. med. Bernard Flückiger
Chefarzt / Ärztlicher Direktor
Facharzt für Innere Medizin FMH mit Schwerpunkt Geriatrie
Adullam Spitäler