In unserer konsumorientierten Gesellschaft ist es nicht ungewöhnlich, dass Menschen hin und wieder dem Drang nach Shopping und dem Erwerb neuer Dinge nachgeben. Doch für manche entwickelt sich dieser Konsumzwang zu einer regelrechten Sucht, die ihr Leben stark beeinflusst. Im Interview erklärt Frau Ursula Sutter, Psychologin MSc und eidg. anerkannte Psychotherapeutin der Berner Gesundheit, was dahinter steckt.
Frau Sutter, was versteht man unter dem Begriff Kaufsucht?
Kaufsuchst ist bis heute keine offizielle psychiatrische Diagnose. Dennoch entsprechen die Symptome, die eine kaufsüchtige Person zeigt, den Kriterien, die wir auch bei anderen Abhängigkeitserkrankungen erkennen: dem Drang/Zwang, etwas kaufen zu müssen, der unablässigen gedanklichen Beschäftigung mit dem Kaufen, dem Weiterfahren mit Shoppen, obwohl man bereits negative Konsequenzen erlebt, beispielsweise Mahnungen/Betreibungen oder auch der Vernachlässigung anderer wichtiger Dinge, z.B. sozialer Kontakte, Arbeit etc.
Wie viele Menschen in der Schweiz sind betroffen und wie haben sich die Zahlen in den letzten zehn Jahren verändert?
Leider ist Kaufsucht weiter verbreitet, als man denkt. Eine Erhebung des Bundesamtes für Gesundheit aus dem Jahr 2019 – also noch vor Corona – berichtet von rund 330’000 kaufsüchtigen erwachsenen Schweizerinnen und Schweizern; dies entspricht etwa der Zahl der alkoholabhängigen Personen in der Schweiz. Diese Zahlen sind erstaunlicherweise in den letzten Jahren stabil geblieben.
Wie sehen die Prognosen für die Zukunft aus?
Für die Zukunft bedenklich stimmen erste Schätzungen der Erhebung zu risikoreichem Kaufverhalten, also zu Personen, die die Kriterien einer Kaufsucht nicht erfüllen, deren Verhalten aber als problematisch eingeschätzt wird. Hier liegen die Zahlen deutlich höher: Gemäss den Schätzungen hat ungefähr jede fünfte Person in der Schweiz (21 Prozent) ein risikoreiches Kaufverhalten im realen Shopping, rund 11 Prozent der Bevölkerung weist ein risikoreiches Online-Kaufverhalten auf. Zudem sind beim Online-Shopping die jüngeren Personen erwartungsgemäss übervertreten.
Welche Faktoren tragen zur Entwicklung einer Kaufsucht in unserer Konsumgesellschaft bei?
Wie bei allen Abhängigkeitsproblematiken hängt auch die Entstehung eines unkontrollierten Kaufverhaltens von verschiedenen Faktoren ab. Risikofaktoren sind auf der personellen Ebene beispielsweise ein geringes Selbstwertgefühl oder Schwierigkeiten, Impulse kontrollieren zu können. Hinzu kommt auf der gesellschaftlichen Ebene der Druck der Konsumgesellschaft bzw. des sozialen Umfeldes. Während Shoppen zu Beginn einfach Spass macht und als lustvoll erlebt wird, nimmt das Verhalten zunehmend eine bestimmte Funktion ein. So führt der Wunsch nach sozialer Anerkennung dazu, Produkte zu kaufen, die man sich vielleicht gar nicht leisten kann. Kaufen kann aber auch helfen, unangenehme Gefühle wie Trauer, Leere und Einsamkeit zu verdrängen. Wer von uns kennt keine Frust- oder Belohnungskäufe?
Wie sieht es beim Online-Shopping aus?
Eine wichtige Rolle spielt heute das Internet bzw. das Online-Shopping. Mit Handy und Internet ist es jederzeit möglich zu shoppen; keine Öffnungszeiten oder Feiertage hindern uns am Einkaufen. Durch den Kauf auf Rechnung oder mittels Kreditkarte muss erst später gezahlt werden. All dies erhöht das Risiko, in eine Kaufsucht zu schlittern.
Wie kann man zwischen normalem Konsumverhalten und Kaufsucht unterscheiden?
Üblicherweise kaufen Menschen etwas ein, weil sie es benötigen oder weil sie sich darüber freuen. Sie stöbern in den Geschäften oder online – mit Genuss. Und sie kaufen Dinge, die sie sich finanziell leisten können. Eine Person mit einem problematischen Konsumverhalten freut sich meistens kaum mehr über das Gekaufte. Vielmehr wird das Einkaufen zum Zwang, die Gedanken drehen sich fast ausschliesslich ums Kaufen: «Was kann wann, wo und wie gekauft werden?» Hinzu kommt der Stress mit offenen Rechnungen. Der Drang zu kaufen lässt sich nicht mehr kontrollieren. Rechnungen und Betreibungen werden verdrängt. Um sich abzulenken, wird von neuem geshoppt – ein Teufelskreis.
Welche Auswirkungen hat Kaufsucht auf das psychische Wohlbefinden und die Beziehungen der Betroffenen?
Kaufsüchtige Menschen leiden vor allem unter Schuld- und Schamgefühlen, wenn sie merken, dass sie ihr Kaufverhalten nicht kontrollieren können. Dies führt zur Selbstabwertung aber auch zu enormem Stress, zu Ängsten, depressiven Symptomen und weiteren psychischen Belastungen. Das Kaufen beansprucht immer mehr Zeit. In der Folge isolieren sich Betroffene immer stärker und bleiben im Teufelskreis der dysfunktionalen Lösungsversuche gefangen. Sehr oft führt eine Kaufsucht auch in die Verschuldung. In Momenten der Ausweglosigkeit kann es daher auch zu delinquentem Verhalten wie Betrug oder Kreditkartenmissbrauch kommen. Manchmal kaufen Betroffene auch auf Namen und Rechnung ihrer Partnerinnen oder Partner, und diese sind ohne ihr Zutun plötzlich ebenfalls verschuldet. Dass ein solches Verhalten die Beziehung belastet, zu Streit, Vorwürfen und Not führt, ist nachvollziehbar.
Welche therapeutischen Ansätze sind wirksam bei der Behandlung von Kaufsucht?
Es gibt verschiedene therapeutische Ansätze, die Betroffenen helfen, anders mit ihrer psychischen Belastung umzugehen. Im Zentrum der Therapie steht die sogenannte Emotionsregulation. Für Betroffene geht es also darum, zu erkennen, wofür ihr Kaufverhalten steht und welche Gefühle und Bedürfnisse hinter ihrem Kaufzwang stehen (z.B. Trost, Belohnung, Langeweile, Frust etc.). In einem zweiten Schritt geht es dann darum, für die Befriedigung dieser absolut berechtigten Gefühle andere, gesündere Lösungsansätze zu finden. Der wichtigste Schritt aber ist, dass Betroffene sich Hilfe holen, was sie leider sehr oft viel zu spät tun. Angesichts der Tatsache, dass es in der Schweiz ebenso viele Kaufsüchtige wie Alkoholabhängige gibt, wird die Unterstützung viel zu selten in Anspruch genommen. Hilfe bieten Suchtberatungsstellen, wie die Berner Gesundheit, die es in allen Kantonen gibt, aber auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten können bei Abhängigkeitserkrankungen unterstützen und helfen.
Menschen lassen sich beeinflussen, sowohl von der Werbung als auch von den sozialen Medien.
Welche Rolle spielen die sozialen Medien und die Werbung bei der Förderung von Kaufsucht?
Auf Tiktok, Instagram etc. folgt man meistens Menschen, die einen faszinieren. Natürlich will man diesen nacheifern, die gleichen Dinge haben und dasselbe tun. Hinzu kommt, dass Online-Algorithmen eingesetzt werden, die den Nutzerinnen und Nutzern immer mehr Produkte zeigen, die diese interessieren könnten. Das gleiche gilt beim Ausverkauf in den Geschäften oder bei «Black Friday» – überall winken Angebote zu «sensationellen» Preisen. Als eine von Kaufsucht betroffene Person kann man diesen Verführungen meist nicht widerstehen.
Welchen Einfluss hat das Kaufen von Dingen auf das Selbstwertgefühl und die Identität der Menschen?
In unserer Konsumgesellschaft wird Kaufen bzw. Besitz grundsätzlich als etwas Positives bewertet und führt zu sozialer Anerkennung. Komplimente beeinflussen unser Selbstwertgefühl positiv, geben uns kurzfristig ein gutes Gefühl. Beim Einkauf im Geschäft werde ich als Kunde unter Umständen sehr zuvorkommend bedient, man kennt mich, spricht mich mit Namen an – das fühlt sich gut an. Leider aktiviert dieses Geschehen unser Belohnungssystem im Hirn nur kurzfristig – davon wollen wir mehr!
Wie können Familienangehörige oder Freunde jemandem helfen, der unter Kaufsucht leidet?
Kaufsucht ist eine stille Sucht, d.h. sie schleicht sich unauffällig an und wird oft erst spät erkannt. Tatsächlich wird die Problematik im Umfeld meistens erst zum Thema, wenn Mahnungen oder Betreibungen ins Haus flattern. Wichtig ist – wie übrigens bei allen Suchtverhalten –, die betroffene Person auf ihr Kaufverhalten anzusprechen. Hierbei geht es nicht darum, der Person Vorwürfe zu machen oder zu «beweisen», dass sie ein Problem hat. Vielmehr geht es darum, seine Beobachtungen und Sorgen zu äussern und der betroffenen Person Unterstützung anzubieten, z.B. in der Budgetplanung oder bei der Suche nach einer professionellen Unterstützung wie Suchtberatungsstellen oder auch Schuldenberatung.
An wen können sich betroffene Personen oder das Umfeld richten, wenn Sie Hilfe brauchen?
Betroffene und Angehörige können sich an Suchtfachstellen oder psychiatrische Institutionen wenden. Auch die Schuldenberatung kann eine gute Anlaufstelle sein. Anonymer und niederschwelliger kann die Hilfe mit sicherer Online-Beratung auf der Website der Berner Gesundheit oder via safe-zone.ch angefragt werden.
Wirkungsvolle Hilfen beim Shopping
- Einkaufslisten schreiben – das verhindert Spontankäufe.
- Aufschreiben, was man alles gekauft hat – dies gibt eine bessere Übersicht.
- Budget erstellen – um zu wissen, wo man finanziell steht.
- «Nur Bares ist Wahres» – wer nicht mit Karte zahlt, behält den Überblick über sein Geld und teure, unüberlegte Einkäufe fallen weg.
- Nicht alleine einkaufen – in Begleitung fühlen wir uns «kontrolliert» und kaufen vernünftiger ein.
- Shopping-Apps auf dem Handy löschen und sich bei Newslettern abmelden.
- 24-Stunden-Regel: Ware zurücklegen lassen bzw. online im Warenkorb lassen – dies gibt Zeit, den Kaufentscheid zu überdenken.
- Keine Kredit- oder Bankkartendaten in den Profilen von Online-Shops hinterlegen bzw. diese löschen. So kann Ware nicht mit einem einzigen Klick gekauft werden.
Über die Berner Gesundheit (www.bernergesundheit.ch)
Die Angebote der Berner Gesundheit sind kostenlos und so individuell wie die Menschen, die sie in Anspruch nehmen. Die Kernaufgaben sind Beratung und Therapie im Suchtbereich, Gesundheitsförderung und Prävention sowie Sexualpädagogik. Diese Dienstleistungen erbringt die Berner Gesundheit als Stiftung im Auftrag der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern.
Mit vier Regionalzentren und zusätzlichen Standorten ist die Berner Gesundheit im ganzen Kanton Bern vertreten und damit immer in der Nähe der Kundinnen und Kunden. Die Angebote sind sowohl in Deutsch als auch in Französisch erhältlich. Politisch und konfessionell ist die Non-Profit-Organisation unabhängig.