Migräne: Bereits Kleinkinder können betroffen sein

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Quelle: TCS Info Feed

Dr. med. Robert Bühler, Chefarzt Neurologie und Leiter Departement Innere Medizin des Bürgerspitals Solothurn, zum Thema Migräne.

Herr Bühler, was verbirgt sich hinter dem Begriff Migräne?
Unter Migräne verstehen Fachärzte eine besondere Form eines «primären» Kopfschmerzes. Im Gegensatz zu sekundären Kopfschmerzen, wo eine andere Erkrankung, wie zum Beispiel eine Hirnhautentzündung, die Schmerzen verursacht, sind die Kopfschmerzen bei den primären Formen Teil der eigentlichen Krankheit. 90 Prozent der Kopfschmerzen sind zwar «harmlos», das heisst nicht lebensbedrohlich, beeinträchtigen dafür umso stärker die Lebensqualität und haben unter Umständen erhebliche Folgen für Beruf, Hobbies aber auch das soziale Leben. Das ist bei der Migräne der Fall, welche viel Leid und Kosten weltweit verursacht.

Wie entsteht Migräne?
Man muss sich die Migräne als einen «Programmfehler» in einem komplizierten Nervennetzwerk vorstellen. Es besteht bei den Betroffenen eine stark variable individuelle Empfindlichkeit gegenüber verschiedenen Einflussfaktoren, wie beispielsweise Stress, Nahrungsmittel und Wetter. Durch solche Faktoren kann eine Migräne-Attacke ausgelöst werden. Es ist, wie wenn ein Schalter in einer bestimmten Hirnregion betätigt wird: verschiedene Nervenbahnen werden aktiviert und erzeugen die Beschwerden. Nach einer solchen Attacke braucht es wieder Zeit, bis sich das «System beruhigt» hat.

Durch welche Symptome macht sich die Migräne bemerkbar?
Die Migräne ist nicht bei allen Personen gleich. Daher hat die internationale Kopfschmerzgesellschaft, welche sich aus Fachspezialisten der Forschung und Behandlung von Kopfschmerzen zusammensetzt, bestimmte Merkmale definiert. Typisch für eine Migräne sind starke, klopfende Kopfschmerzen mit Verstärkung, wenn man sich nicht hinlegt. Sie werden typischerweise halbseitig und entweder vor allem im Nacken oder aber im Bereich um ein Auge oder einer Schläfe wahrgenommen. Ebenso gehören entweder eine Licht- oder Lärmüberempfindlichkeit dazu, aber auch Übelkeit bis hin zum Erbrechen.

Gibt es weitere Symptome, welche bei einer Migräne auftreten?
Bei der Migräne mit Aura kommen noch Störungen anderer Nervennetzwerke hinzu, wie zum Beispiel Sehstörungen in Form von entweder grauen oder gezackten hellen Flecken oder Flächen, halbseitige Gefühlsstörungen im Bereich von Gesicht oder Armen oder sogar Sprachstörungen. Interessanterweise haben Betroffene mit Migräne ausserhalb von solchen Kopfschmerzattacken gehäuft andere Schwierigkeiten wie Reisekrankheit oder tiefen Blutdruck mit Schwarzwerden vor den Augen beim raschen Aufstehen, was auf die «Empfindlichkeit» bestimmter Nervennetzwerke im Gehirn hinweist.

Wie lange kann so ein Anfall dauern?
So unterschiedlich die Kombination von Beschwerden neben den Kopfschmerzen sein kann, so variabel ist die Dauer einer Kopfschmerzattacke. Die Anfälle können zwischen 4 und 72 Stunden dauern. Dabei werden verschiedene Phasen unterschieden. Eine erste «prämonitorische» Phase, wo gewisse Zeichen wie Gähnen und Harndrang darauf hinweisen, dass die Migräneattacke eigentlich schon begonnen hat und sich der Kopfschmerz anbahnt. Nach Abklingen des Kopfschmerzes ist die betroffene Person in der postdromalen Phase noch schläfrig und hat Mühe, die gewohnten Leistungen zu erbringen. Bei einer Migräne mit Aura treten die oben geschilderten Störungen vor oder mit dem Beginn der Kopfschmerzen auf. Dieser Ablauf gilt für die Mehrheit der Migräneattacken, aber natürlich gibt es eine sehr grosse individuelle Variabilität.

Wie unterscheidet sich die Migräne von normalen Kopfschmerzen?
Die Kopfschmerzintensität und die starke Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit sind sicherlich, neben der geschilderten Beschwerdekombination und Attackendauer, die Eigenschaften, welche für die Betroffenen einen starken Leidensdruck auslösen und leider vom Umfeld häufig nicht wirklich verstanden werden. Die Unfähigkeit weiterarbeiten zu können, wird häufig im Kollegenkreis als «Faulheit» ausgelegt oder die Empfindlichkeit gegenüber Stress als «Schwäche». In meiner Erfahrung sind, aber gerade Migräne-Betroffene sehr pflichtbewusst und häufig perfektionistisch und leiden darum besonders stark unter der negativen Einschätzung ihres Umfeldes.

Stimmt es, dass die Ursache für die Betroffenheit von genetischen Faktoren abhängt?
Es besteht offensichtlich eine genetische Grundlage. Die Gene geben ohnehin nicht nur vor, wie wir «konstruiert» sind, also zum Beispiel aussehen, sondern auch wie wir «funktionieren». Das betrifft natürlich auch die Nervenfunktion. Forscher gehen davon aus, dass diese genetische Grundlage die Empfindlichkeit und Reaktionsweise unserer Nerven auf Umweltfaktoren bestimmt.

Wer ist häufig davon betroffen?
Migräne ist eine Erkrankung des jungen Erwachsenen und tritt darum bei Personen zwischen dem 20. und 45. Lebensjahr am häufigsten auf. Frauen sind etwa drei Mal häufiger betroffen, was sich damit erklärt, dass alle unsere Hormone auch einen Einfluss auf die Nervenfunktion und damit auch auf Nervenfunktionsstörungen haben.

Können auch Kinder unter Migräne leiden?
Bereits Kleinkinder können betroffen sein, wobei sich dann häufig «komische» Beschwerden wie Bauch- und nicht Kopfschmerzen zeigen. Es ist leider so, dass gerade bei Kindern Kopfschmerzen und damit die Migräne verpasst werden. Man geht davon aus, dass nur bei zwei von zehn Schulkindern mit Kopfschmerz, dieser abgeklärt und behandelt wird. Gerade bei der Migräne liegt es teilweise daran, dass die Kopfschmerzen gegenüber anderen Beschwerden wie Übelkeit und Bauchschmerzen im Hintergrund stehen und darum von den Kindern nicht spontan darüber berichtet wird.

Wann muss man zum Arzt?
Jeder aussergewöhnliche Kopfschmerz mit völlig neuer Intensität, Charakter und Dauer sollte weiterverfolgt werden. Insbesondere wenn es andere Zeichen des Nervensystems gibt. Besonders dringlich ist der Gang zum Arzt, wenn solche Kopfschmerzen erstmals nach dem 50. Lebensjahr auftreten. Jeder Kopfschmerz, der im Liegen deutlich stärker ist als beim Sitzen oder im Stehen, sollte unverzüglich auf einer Notfallstation untersucht werden.

Welche Therapie-Optionen gibt es?
Die Therapieoptionen sind sehr weitreichend. Man unterscheidet bei der Migräne die Anfallsbehandlung und eine vorbeugende Therapie. Im Anfall können schon einfache Schmerzmittel helfen, wobei es wichtig ist, diese möglichst früh einzunehmen und nicht zu warten, bis der Kopfschmerz das Maximum erreicht hat. Denn wenn die Störung zu weit fortgeschritten ist, kann eine Besserung erst nach Erholung der Nervenfunktion erwartet werden. In diesen Fällen nützen unter Umständen sogar die speziellen Migräne-Medikamente nicht mehr. Ebenso ist es ratsam, Schmerzmittel mit solchen gegen Übelkeit in der Attacke zu kombinieren.

Wie sehen die vorbeugenden Massnahmen aus?
Als vorbeugende Behandlung gibt es jede Form von Therapie. Am besten wirksam ist eine sportliche Aktivität, welche stufenweise auf drei Mal eine halbe Stunde pro Woche aufgebaut werden soll. Auch Entspannungstechniken sind wirksam. Daneben gibt es eine Vielzahl von Medikamenten, welche vorbeugend auf täglicher Basis eingenommen werden müssen. Seit neustem gibt es eine sehr effiziente aber auch sehr teure Spritze, bei der einmal monatlich ein Medikamentendepot unter die Haut gespritzt wird. Von den so genannten «alternativen» Therapieverfahren ist die Akupunktur, in meiner Erfahrung, für einen Teil der Betroffenen geeignet.

Was lindert die Schmerzen bei einem Migräne-Anfall?
Neben den oben genannten Medikamenten empfiehlt es sich, dass sich Betroffene in einen dunklen und ruhigen Raum zurückziehen – sofern möglich. Viele Betroffene empfinden Kälte-Beutel, welche aus dem Kühlschrank (nicht Gefrierfach) genommen und über die Augen gelegt werden, als Erleichterung. Sanfte Massagen mit Pfefferminzöl werden auch empfohlen, sind längst aber nicht von allen Betroffenen während einer Migräneattacke toleriert.



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