60 Minuten, die über Leben entscheiden – die goldene Stunde

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Adobe, Rettungsteam
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Quelle: TCS MyMed

Ein Unfall, ein Kollaps, ein plötzlicher medizinischer Notfall – von einer Sekunde auf die andere steht alles still. Was viele nicht wissen: Die erste Stunde nach einem solchen Ereignis ist oft die wichtigste im ganzen Behandlungsverlauf. In dieser «goldenen Stunde» kann rasches Handeln Blutungen stoppen, Organschäden verhindern und Leben retten. Jede Minute zählt – vom Eingreifen der Ersthelfer bis zur Versorgung im Spital.

Was bedeutet der Begriff «goldene Stunde» in der Notfallmedizin, und warum ist er so wichtig?

Die «Goldene Stunde» bezeichnet den Zeitraum von 60 Minuten unmittelbar nach einem schweren Unfall oder in einer akuten medizinischen Notfallsituation, in dem schnelle und zielgerichtete medizinische Massnahmen entscheidend für das Überleben sind. In dieser Phase können Blutverlust oder Organversagen noch verhindert oder stabilisiert werden. Danach steigen Komplikationsrisiko und Sterblichkeit deutlich an.

Warum ist gerade diese erste Stunde so entscheidend?

In dieser Zeit laufen viele pathophysiologische Prozesse (Veränderungen von Körperfunktionen und -strukturen aufgrund der Notfallsituation) an. Unkontrollierte Blutungen, Sauerstoffmangel oder Durchblutungsstörungen können rasch zu unumkehrbaren Organschäden führen. Je früher behandelt wird, desto besser lassen sich diese Entwicklungen stoppen. Jede Minute entscheidet über Lebensqualität und Überleben.

Gilt die «Goldene Stunde» nur für Unfallopfer oder auch für Herzinfarkt-, Schlaganfall- oder Sepsis-Patienten?

Der Begriff kommt aus der Unfallmedizin, die Dringlichkeit hingegen gilt für viele Notfallbilder.

  • Beim Herzinfarkt zählt «time is muscle»: Die rasche Wiederherstellung der Durchblutung der Herzkranzgefässe verhindert dauerhafte Schäden am Herzmuskel.
  • Beim Schlaganfall gilt «time is brain»: Je früher ein Blutgerinnsel aufgelöst oder entfernt wird, desto mehr Hirngewebe kann gerettet werden.
  • Bei einer Sepsis sind die ersten 60 Minuten für Diagnose, Antibiotikagabe und Kreislauftherapie entscheidend, um ein Organversagen zu verhindern.

Wie läuft diese Stunde konkret ab – vom Unfallort bis zur Notaufnahme? Welche Rolle spielen Ersthelfer, Sanitäter und Notärzte?

  • Eintreffen der Ersthelfer in den ersten Minuten nach dem Notruf: Absichern der Unfallstelle, Basismassnahmen (Bewusstseinskontrolle, stabile Seitenlage, Blutstillung, Wiederbelebungsmassnahmen nach BLS [Basic Life Support], Einsatz eines automatischen Defibrillators). Durch ihr Handeln bilden Ersthelfer die wichtigste Grundlage für das Überleben und die spätere Lebensqualität.
  • Eintreffen des Rettungsdiensts und gegebenenfalls Notarztes idealerweise innerhalb von 10, spätestens nach 15 Minuten.
  • Die Mitarbeitenden des Rettungsdiensts beurteilen den Zustand nach einem strukturierten Ablauf und treffen erste Massnahmen: Stoppen von schweren Blutungen, Sicherung der Atemwege, Sauerstoffgabe, Anlage eines Gefässzugangs zur Medikamenten- und Flüssigkeitsgabe, Kreislaufstabilisierung und Messung von Vitalparametern (Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung).
  • Hinzuziehen eines Notarztes, falls fortgeschrittene Massnahmen nötig sind, etwa Atemwegssicherung, Kreislaufunterstützung oder komplexe Medikamentengaben.
  • Parallel erstellen einer Arbeitsdiagnose, die über Dringlichkeit und Zielklinik entscheidet.
  • Transport unter Überwachung der Vitalparameter und Fortführung stabilisierender Massnahmen; parallel dazu Anmeldung in der Zielklinik.
  • Aufnahme auf der Notfallstation der Zielklinik, gegebenenfalls im Schockraum: speziell ausgerüsteter Behandlungsraum, in dem schwer verletzte oder lebensbedrohlich erkrankte Patientinnen und Patienten sofort und gleichzeitig von einem eingespielten Ärzteteam und Pflegepersonal versorgt werden. Dabei wird auch über notwendige Eingriffe oder Intensivtherapie entschieden.

Wie schaffen es Rettungsteams, in so kurzer Zeit Diagnosen zu stellen und Entscheidungen zu treffen?

Dank fundierter Aus- und Weiterbildung, regelmässigem Training und standardisierten Abläufen:

  • ABCDE-Schema (airway, breathing, circulation, disability, exposure – deutsch: Atemweg, Atmung, Kreislauf, neurologischer Zustand, Entkleiden/Umgebung)
  • SAMPLER-Anamnese (symptoms, allergies, medications, past medical history, last meal, events, risk factors – auf Deutsch: Symptome, Allergien, Medikamente, Vorerkrankungen, letzte Mahlzeit, Ereignisse, Risikofaktoren)
  • Trauma- und Reanimationsprotokolle (zum Beispiel ACLS/ALS, PALS/EPALS, PHTLS, ATLS)

Die Teammitglieder arbeiten als eingespielte Crew nach klaren Checklisten. Entscheidend ist Teamarbeit: Jede Person kennt ihre Rolle und kommuniziert offen. Human Factors (Stress, Aufmerksamkeit, Kommunikation) helfen, auch unter Zeitdruck richtige Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeiten werden intensiv vermittelt und in regelmässigen Übungen trainiert.

Welche medizinischen Massnahmen sind in dieser Zeit am wichtigsten?

Die wichtigsten Massnahmen sind:

  • Atemwegssicherung und ausreichende Versorgung mit Sauerstoff
  • Blutstillung
  • Schockbehandlung: Ein «Schock» bedeutet, dass Organe nicht mehr genug Blut und Sauerstoff bekommen. Behandlung: Flüssigkeitsgabe über Venenzugang und Kreislauftherapie.
  • Frühzeitige Behandlung von Schmerzen
  • Rascher Transport in die geeignete Zielklinik
  • Bei Herzinfarkt: EKG und Gabe von blutverdünnenden Medikamenten, frühzeitige Information der Zielklinik, damit der nötige Eingriff vorbereitet werden kann.
  • Bei Schlaganfall: Unterstützung der Vitalfunktionen (Atemweg, Atmung, Kreislauf) bei Bedarf, Wahl der geeigneten Zielklinik, frühzeitige Information der Zielklinik zur Vorbereitung bildgebender Untersuchungen und Behandlung.
  • Bei Sepsis: Abnahme von Blutproben zur Laboruntersuchung, Flüssigkeitsgabe über Venenzugang, Antibiotikagabe.

Hat die «Goldene Stunde» heute dank moderner Technik ein anderes Gewicht?

Die Grundidee ist unverändert: Zeit rettet Leben. Moderne Technik verschiebt jedoch Grenzen und erleichtert Diagnostik und Therapie. Wichtig ist, dass dadurch keine unnötige Zeit verloren geht. Technik ersetzt keine frühe oder strukturierte Versorgung.

Beispiele neuer Trends, die bereits genutzt werden oder derzeit evaluiert werden:

  • Ultraschalluntersuchung schon am Unfallort
  • Bestimmung erster Laborwerte noch vor Eintreffen im Zielspital
  • Verbesserte Intubationshilfen
  • Einsatz von First-Respondern und automatischen Defibrillatoren bei Herz-Kreislauf-Stillstand

Wie gut ist die Bevölkerung in der Schweiz vorbereitet – wissen genügend Menschen, was zu tun ist?

Die Schweiz hat im internationalen Vergleich eine relativ hohe Ersthelferkompetenz, vor allem dank obligatorischer Erste-Hilfe-Kurse für den Führerschein. Trotzdem fühlen sich viele Menschen unsicher oder haben Angst, etwas falsch zu machen. Die Laienhilfe kann weiter gestärkt werden, insbesondere bei Wiederbelebung und beim Wissen, wie man einen Notruf korrekt absetzt.

Was wünschen Sie sich von Laienhelfern – und welche drei Dinge sollte jeder Mensch wissen?

Wir wünschen uns:

  • Mut zum Handeln, anstatt Angst vor Fehlern
  • Besuch von Auffrischungskursen

Drei Dinge, die jeder wissen sollte:

  • Einen Notruf absetzen: Auch im Zweifelsfall und ohne Scheu die Telefonnummer 144 wählen. Wichtig: Nicht auflegen, bis die Leitstelle sagt, dass das Gespräch beendet ist. Die Disponenten stellen alle nötigen Fragen und geben Handlungsanweisungen.
  • Herzdruckmassage: Sofort anfangen und nicht aufhören. Falls eine Person bewusstlos ist und nicht normal atmet, zählt jede Sekunde. Brustkorb kräftig und rhythmisch drücken. Keine Angst vor Fehlern: Zögern kostet Zeit.
  • AED nutzen: Automatische Defibrillatoren an öffentlichen Orten sind für Laien gemacht und geben Anweisungen. Zusammen mit Herzdruckmassage erhöhen sie die Überlebenschancen deutlich.

Spielen die Standorte «Stadt» oder «Land» eine Rolle bei den Überlebenschancen?

Ja, der Ort kann einen Unterschied machen. In Städten kommt die Rettung oft schneller und es gibt mehr spezialisierte Kliniken. Auf dem Land dauert es tendenziell länger, bis Hilfe eintrifft, und die Wege zur Klinik sind länger. Helikopter können vieles ausgleichen, aber nicht immer: Die Anzahl ist begrenzt, und das Wetter erlaubt nicht immer den Einsatz. Insgesamt ist die Schweiz jedoch gut aufgestellt: Es gibt genügend Rettungsmittel und Patientinnen und Patienten in kritischem Zustand erreichen fast immer schnell eine passende Klinik.

Ein Satz als wichtigste Botschaft für den Notfall?

Wer handelt, kann Leben retten – wer zögert, verliert kostbare Zeit.

Benedetta Rei, Spital Limmattal


Benedetta Rei
Ärztliche Leiterin Rettungsdienst Limmattal
Stv. Leitende Ärztin Anästhesie und Intensivmedizin Spital Limmattal

Luca Muehletaler, Spital Limmattal


Luca Mühlethaler
Leiter Rettungsdienst
Dipl. Rettungssanitäter HF

Verwenden Sie diese Informationen nicht als alleinige Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen. Fragen Sie bei gesundheitlichen Beschwerden Ihren Arzt oder Apotheker. Surfen im Internet ersetzt den Arztbesuch nicht.

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