
Depressionen, Angststörungen und Demenz – psychische Erkrankungen betreffen auch ältere Menschen, oft in Verbindung mit körperlichen Beschwerden und sozialer Isolation. Dr. Dan Georgescu, Chefarzt und Klinikleiter an den Psychiatrischen Dienste Aargau, erklärt, welche präventiven Massnahmen entscheidend sind, wie soziale Interaktion hilft und warum das Thema zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Herr Georgescu, wie häufig treten psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen bei älteren Menschen auf und wie hat sich die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren verändert?
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ältere Menschen die Krankheitslast ihrer psychischen Erkrankung oft auch in die späteren Jahre tragen, was ein Risiko für anhaltende oder wiederkehrende Krankheitsschübe – eventuell gleichzeitig mit körperlichen und anderen psychischen Erkrankungen – darstellt. Das Schweizer Suchtmonitoring deutet auf einen hohen täglichen Alkoholkonsum mit zunehmendem Alter hin. Unter Berücksichtigung des demografischen Wandels in den nächsten 40 Jahren könnten Demenz, Drogenmissbrauch, Angststörungen und Depressionen weltweit die grössten Herausforderungen im Bereich psychischer Störungen im Alter darstellen.
Welche Faktoren tragen am meisten zur psychischen Gesundheit im Alter bei, z. B. soziale Isolation, körperliche Erkrankungen oder der Verlust von Angehörigen?
Es gibt überwältigende Beweise dafür, dass psychische Störungen im Alter mit einer Reihe von hohen Risiken verbunden sind: soziale Benachteiligung gepaart mit Einsamkeit, schlechte Lebensqualität, Behinderung, abnehmende kognitive Fähigkeiten, körperliche Erkrankungen und Funktionseinschränkungen. Übrigens: Das grösste potenzielle Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen (insbesondere depressiver Störungen) wurde bei älteren Menschen ohne Partnerschaft festgestellt.
Wie können Anzeichen von psychischen Problemen bei älteren Menschen frühzeitig erkannt werden?
Ein Hinweis auf das Auftreten von psychischen oder kognitiven Problemen ist die Veränderung in verschiedenen Bereichen wie Gewohnheiten, Verhalten, Zusammenleben und sozialen Kontakten, Schlafbedürfnis, Konsum von Alkohol sowie Beruhigungsmittel oder Persönlichkeit. Darüber hinaus wurden bei einigen Erkrankungen grosse Fortschritte gemacht bei der medizinischen Früherkennung und Frühdiagnostik. Dies betrifft insbesondere Demenzerkrankungen wie Alzheimer, wo messbare Biomarker identifiziert worden sind und zunehmend in die klinische Routine einfliessen.
Inwiefern unterscheidet sich die Behandlung psychischer Erkrankungen bei älteren Patienten von der Behandlung jüngerer Personen?
Die Unterschiede sind weitreichend. Sie betreffen alle Ebenen unseres Behandlungsansatzes: die biologische, die psychologische, die soziale und die spirituelle Dimension. Die körperlichen Gegebenheiten, die emotionalen, beziehungsmässigen und sozialen Bedürfnisse, aber auch die spirituell-existentiellen Bedürfnisse unterscheiden sich sowohl in den verschiedenen Lebensphasen als auch in den verschiedenen Generationen und soziokulturellen Prägungen.
Welche Rolle spielt der Übergang in den Ruhestand für die mentale Gesundheit?
Das hängt davon ab, welche Rolle die Arbeit in unserem Leben hat. Wenn die Arbeit verschiedene Bedürfnisse im Zusammenhang mit Vergnügen, Sinnfindung, Interaktion mit anderen Menschen, z. B. in Teams, oder sozialem Status erfüllt, dann kann die Pensionierung eine Risikosituation für psychische Krisen darstellen. Dies insbesondere dann, wenn man sich nicht darauf vorbereitet hat, wenn man keine befriedigenden soziale Beziehungen ausserhalb des Arbeitsumfelds geknüpft hat und wenn man eine schlechte Beziehung zum Lebenspartner oder zur Lebenspartnerin hat. Für viele Beziehungen schlägt mit der Pensionierung die Stunde der Wahrheit. Darüber hinaus wird die Lebensphase des Alters durch die Pensionierung eingeleitet. Diese Lebensphase ist aus entwicklungspsychologischer Sicht eine eigene Entwicklungsphase, geprägt von Entwicklungsaufgaben im Zusammenhang mit spezifischen emotionalen Bedürfnissen, phasenbezogenen Themen und altersspezifischen Ängsten.
Wie wichtig ist die soziale Interaktion für die psychische Gesundheit im Alter und wie können ältere Menschen dabei unterstützt werden?
Soziale Interaktion ist sehr wichtig für die psychische Gesundheit, nicht nur im Alter. Im Alter besteht jedoch ein höheres Risiko für Einsamkeit und damit für Depressionen oder Suchterkrankungen. Das Verändern der Familienstrukturen und der Beziehungsmodelle bringt Vorteile mit sich und ist für viele Menschen ein Befreiungsschlag gegenüber den Erwartungen und Einschränkungen der traditionellen Familienstrukturen. Damit riskieren jedoch einige auch die Vereinsamung im Alter, und zwar insbesondere dann, wenn sie keinen alternativen sozialen Gruppen beigetreten sind. Dies können beispielsweise Clubs oder Vereine sein, die sich über die spezifischen Interessen ihrer Mitglieder definieren.
Welche Rolle spielt die körperliche Aktivität bei der Prävention und Behandlung psychischer Probleme im Alter?
Sämtliche Studien zeigen dasselbe: Körperliche Aktivität ist ein ganz wichtiger Faktor bei der Prävention und Therapie psychischer Störungen, aber auch von Demenzerkrankungen im Alter. Die Aktivität soll jedoch den Möglichkeiten angepasst werden und nicht zu einer Überforderung führen oder das Gefühl des Unvermögens verstärken. Sie soll Spass machen und ein Erfolgsgefühl vermitteln. Neben der körperlichen Aktivität ist aber auch die geistige Aktivität sehr wichtig. Dies setzt jedoch eine Lernbereitschaft und einen Optimismus voraus. «Wird auch silbern mein Haar, lern’ ich doch immer noch vieles» – Solon, einer der sieben Weisen des antiken Griechenlands, meinte damit das Potenzial des permanenten Weiterlernens, auch im hohen Alter.
Wie können Familie und Angehörige ältere Menschen dabei unterstützen, ihre psychische Gesundheit zu erhalten?
Das Wichtigste ist meiner Meinung nach das Verständnis für die unterschiedlichen Bedürfnisse älterer Menschen und die Empathie ihnen gegenüber. Empathie und Akzeptanz bedeuten nicht, dass man ihre Ansichten teilt, sondern dass man akzeptiert, dass ältere Menschen in einer anderen Zeit aufgewachsen sind und gelebt haben, geprägt von anderen gesellschaftlichen Erwartungen, Wertvorstellungen, sozioökonomischen Rahmenbedingungen, Erziehungsmethoden usw. Man sollte sich also weder den älteren Menschen unterwerfen noch sie dauernd kritisieren und ändern wollen. Grundsätzlich rate ich jüngeren wie älteren Menschen, den Mut zu haben, ihr Leben so zu leben, dass sie sich selbst treu bleiben, statt so zu leben, wie es andere von ihnen erwarten.
Gibt es spezifische Herausforderungen bei der Diagnose von psychischen Erkrankungen im Alter, z. B. durch Überschneidungen mit Demenz?
Die Prozesse im Rahmen der Diagnose von psychischen Erkrankungen oder von Hirnleistungsstörungen sind klar definiert und in Form von Leitlinien oder Empfehlungen festgehalten. In Bezug auf die Entwicklung von solchen Guidelines wurde in den letzten 10 bis 15 Jahren in der Schweiz sehr viel gemacht. Diagnostische Abklärungen benötigen meistens das Zusammenwirken von Spezialistinnen und Spezialisten mehrerer Fachgebiete, koordiniert von einem Facharzt oder einer Fachärztin für Alterspsychiatrie. Ohne eine Spezialisierung in diesem Fachgebiet kann man die Herausforderungen in Diagnostik und Therapie nicht meistern.
Welche Präventionsmassnahmen können ältere Menschen ergreifen, um ihre psychische Gesundheit zu stärken?
Sie sollen ihr Möglichstes tun, damit sie in mehreren Dimensionen gesund bleiben. Denn die psychische Gesundheit hängt von verschiedenen Faktoren ab: interessante Aktivitäten, die soziale Teilhabe in einer Familie und/oder in anderen Formen der sozialen Gruppen, die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse wie z. B. zu lieben und geliebt zu werden, eine gute körperliche Gesundheit – und last but not least – eine finanzielle Sicherheit.
Wie sehen Sie die Rolle der Gesellschaft und des Gesundheitssystems, das Bewusstsein für psychische Gesundheit im Alter zu fördern und geeignete Hilfsangebote bereitzustellen?
Unsere Gesellschaft in der Schweiz ist zugleich traditionell geprägt als auch offen für Neues. Durch die Weltoffenheit nehmen wir neue Rollenmodelle auf, z. B. über Fernsehserien oder Social Media. Ebenfalls über solche und andere Kanäle artikuliert sich die moderne Gesellschaft und entwickelt sich unser Bewusstsein. Traditionelle Organisationen im Bereich der Presse, Kommunikation oder Erwachsenenbildung verlieren an Bedeutung, da der Mensch das Internet und dort insbesondere die sozialen Medien als eine schlicht unerschöpfliche Quelle anzapfen kann.
Auch das Gesundheitssystem wird sich ändern, beginnend mit unserem Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Denn immer mehr Krankheiten können mit modernen Methoden sehr früh erkannt werden, auch wenn sie noch gar nicht klinisch manifest sind. Wer wird wohl die Kosten der Untersuchungen und Behandlungen übernehmen in solchen Fällen? Dies ist nicht nur eine finanzielle, medizinische und ethische Frage, sondern auch eine rechtliche, da unsere Gesetze diese Perspektive von künftiger Erkrankung und präventiver Behandlung kaum berücksichtigen.
Dr. med. Dan Georgescu
- Leiter und Chefarzt der Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie, Mitglied der Geschäftsleitung der Psychiatrischen Dienste Aargau AG
- Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie
- Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung