Dr. phil. Daniel Brunner, Zertifizierter Spezialist für Schlafmedizin und Leiter des Zentrums für Schlafmedizin Hirslanden, zum Thema Sekundenschlaf.
Wann spricht man von einem Sekundenschlaf?
Der Begriff Sekundenschlaf ist kein klar definierter oder wissenschaftlicher Begriff. Er wird im Volksmund und in der Presse gerne benutzt, um ein unbeabsichtigtes Einschlafen oder einen Kurzschlaf zu beschreiben, der durch einen Weckreiz – oft ein Nach-Vorne-Kippen des Kopfes – beendet wird. Dieser Kurzschlaf kann je nach Körperposition und Tätigkeit mehrere Sekunden oder auch Minuten dauern.
Wie bemerkt man einen Sekundenschlaf?
Unabhängig von der Dauer des Sekundenschlafs bemerken die meisten Personen erst durch das schreckhafte Aufwachen, dass sie eingeschlafen sind. Bei entspannter Körperposition mit unterstütztem Kopf wird ein Kurzschlaf oft nicht bemerkt. Ein kurzes Eindösen während der Bettlektüre oder liegend vor dem Fernseher passiert bei vielen Personen zum Teil mehrmals, bis ein Weckreiz stattfindet. Auch der normale Einschlafprozess, bei geschlossenen Augen, geschieht über ein kurzes Abtauchen und wieder Aufwachen von jeweils einigen Sekunden, bis nach wenigen Minuten ein stabiler Schlafzustand erreicht ist.
Beim Sekundenschlaf denkt man oft an einen Schlafmangel. Kann dieser auch andere Gründe haben?
Das unbeabsichtigte Einschlafen während einer Tätigkeit kommt am häufigsten in langweiligen und monotonen Situationen und vermehrt bei erhöhter Schläfrigkeit vor. Gründe für überhöhte Schläfrigkeit sind – neben Schlafmangel – ein gestörter Schlaf infolge Atem- oder Bewegungsstörungen während des Schlafs. Einige Leute bringen den Begriff Sekundenschlaf auch mit der Schlafkrankheit Narkolepsie in Verbindung. Unter dieser Schlaf-Wach-Störung leidet aber nur etwa eine von 3000 Personen.
Wann sollte eine Narkolepsie in Betracht gezogen werden?
An eine Narkolepsie sollte nur bei täglichen Problemen mit Einschlafneigung gedacht werden. Personen mit Narkolepsie haben zudem beim Einschlafen oft traumartige unübliche Erlebnisse im Halbschlaf und weitere Symptome.
Sollte eine ärztliche Abklärung gemacht werden, wenn man unter anhaltender Tagesmüdigkeit leidet?
Eine den Alltag behindernde Müdigkeit soll natürlich beim Hausarzt angesprochen werden. Während Müdigkeit durch verschiedenste medizinische Gründe (Hormone, Infektionen, Mangelerscheinungen, Psyche, Schlafstörungen, Schmerzen etc.) entstehen kann, steht eine erhöhte Einschlafneigung fast immer mit Schlaf-Wach-Störungen in Verbindung.
Welche Untersuchungsmöglichkeiten gibt es, um die Ursache der Müdigkeit zu finden?
Auch hier muss zwischen Müdigkeit im Sinne einer Energie- und Antriebslosigkeit sowie Schläfrigkeit mit Kampf gegen das Einschlafen unterschieden werden. Allfällige internistisch-medizinische Ursachen von Müdigkeit werden durch Blutuntersuchungen und andere Abklärungen beim Hausarzt überprüft. Eine organisch bedingte Störung der Schlafqualität wird mithilfe einer überwachten Schlafregistrierung (Polysomnographie) untersucht. Wenn die Qualität des Schlafs normal ist, wird eine krankhafte Schläfrigkeit mithilfe von vier bis fünf Einschlaftests, die in zweistündlichen Abständen tagsüber stattfinden, abgeklärt. Eine Aufzeichnung von Schlaf- und Hirnströmen muss fachärztlich verordnet werden, denn zur Bestätigung von Schlafmangel als häufigstem Grund für Schläfrigkeit sind keine Messungen nötig.
Wie wird ermittelt, ob es sich tatsächlich nur um einen Schlafmangel handelt?
Wer täglich länger schlafen könnte und dies an freien Tagen auch tut, leidet mit grosser Wahrscheinlichkeit an Schlafmangel. Der ultimative Beweis liefert eine zweiwöchige Testphase mit täglich um 60 bis 120 Minuten verlängertem Schlaf. Wenn dann die Schläfrigkeit und Müdigkeit nachlassen, schläft die betreffende Person zu wenig.
Wie behandelt man anhaltende Schläfrigkeit?
Liegt Schlafmangel vor, ist eine Verlängerung der täglichen Schlafdauer heilsam, während bei gestörter Schlafqualität die zugrunde liegende Ursache des fragmentierten Schlafs therapiert werden muss. Liegt eine zentralnervöse (neurologische) Schlaf-Wach-Störung oder eine andere Erkrankung als Ursache der Schläfrigkeit vor, hilft eine fachärztliche Abklärung und Behandlung weiter. Medikamente zur Stabilisierung der Wachheit, zur Antriebssteigerung, zur Schmerzlinderung etc. können dabei mit Verhaltensstrategien kombiniert werden. Die Befriedigung einer störenden Tagesschläfrigkeit durch geplanten und getimten Kurzschlaf und die Vermeidung von langweiligen Situationen mit langen Inaktivitätsphasen tagsüber sind Verhaltensstrategien, die im Umgang mit Schläfrigkeit sehr wichtig sind.
Stimmt es, dass beim Sekundenschlaf die Augen nicht zwingend geschlossen sind?
Unter hoher Schläfrigkeit sind Halbschlafzustände mit geistiger Abwesenheit oder mit Konzentrationsverlust möglich, welche einem Kurzschlaf entsprechen, ohne dass die Augen zufallen, die Muskelspannung nachlässt oder der Kopf baumelt.
Wie sollte man handeln, wenn man merkt, dass man während der Fahrt zunehmend müder wird?
Man soll nie mit spürbarer Einschlafneigung ein Fahrzeug lenken. Beim Aufkommen von Schläfrigkeit soll dringend eine Fahrpause eingelegt werden. Eine Rastzeit von 10 bis 15 Minuten ist sehr effizient, wenn die Ruhepause bei geschlossenen Augen im Autositz (Turboschlaf) mit einem nachfolgenden weckenden Getränk kombiniert wird. Die meisten Unfälle geschehen ganz kurz vor der Ankunft am Zielort, weil die Person glaubt, auch ohne Pause das Ziel noch erreichen zu können. Lässt der Wachtrieb auch nur für wenige Sekunden nach, kann sofort ein Kurzschlaf eintreten. Weil der Autofahrer strafrechtlich selber verantwortlich ist, seine Fahrfähigkeit korrekt einzuschätzen, soll man nie ein Risiko eingehen.
Kann man sich im Vorfeld vorbereiten, dass es nicht zu einem Sekundenschlaf kommt?
Genügender Schlaf und die erwähnte geplante Schlafpause mit Timer gleich vor Antritt der Fahrt können zur Stabilisierung der Wachheit helfen. Vorbeugend ist vor allem das Wissen, dass in Situationen ohne Beifahrer, bei monotoner Fahrstrecke, in den frühen Morgenstunden, nach dem Mittag und bei Wärme ein Sekundenschlaf nach wenigen Minuten eintreten kann, auch wenn man sich kurz zuvor hellwach und voll leistungsfähig gefühlt hat.
Was sollte man tun, wenn man nicht direkt anhalten kann (z. B. auf der Autobahn) und eine aufsteigende Müdigkeit bemerkt?
Das Ankämpfen gegen den Schlaf am Steuer soll auf jeden Fall vermieden werden. Wenn die nächste Haltemöglichkeit auf sich warten lässt, kann Aktivierung durch Gespräche, durch frische Luft und durch aufrechtes Sitzen am Steuer bei tief gestellter Sitzlehne kurzzeitig helfen.