Stress im Alltag gehört für viele zum ganz normalen Leben dazu und erhält oft keine besondere Beachtung. Doch was passiert im Körper bei Stress und welche gesundheitlichen Probleme können durch anhaltenden Stress entstehen? Dr. med. Christian Imboden, EMBA, ärztlicher Direktor und Vorsitzender der Klinikleitung der Privatklinik Wyss AG, klärt auf.
Herr Imboden, wie häufig sehen Sie in Ihrem Berufsalltag Patienten, die unter stressbedingten Beschwerden leiden, und wie hat sich die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren verändert?
Wenn wir chronischen Stress als Folge von anhaltender Überlastung im beruflichen und privaten Alltag, Mangel an Entspannung sowie Folge von andauenden Konflikten und Anforderungen an sich selbst betrachten, ist dieser als wichtiger Faktor bei psychischen Erkrankungen an der Tagesordnung. Gemäss des in der Schweiz alle paar Jahre erhobenen Job-Stress-Index ist der subjektiv erlebte Stress in der Bevölkerung über die letzten Jahre stabil hoch geblieben. In meiner klinischen Erfahrung haben sich die Ursachen für chronischen Stress aufgrund der aktuellen Weltsituation und der neuen Technologien jedoch etwas verschoben.
Welche Auswirkungen hat chronischer Stress auf die körperliche und auch psychische Gesundheit?
Chronischer Stress hat breite Auswirkungen auf den Körper und damit auf die Psyche: Anhaltende Aktivierung der körperlichen Stressachse mit dem Effekthormon Cortisol führt beispielsweise zu Veränderungen der Blutzirkulation, des Zuckermetabolismus, des Immunsystems, der Darmflora, des Schlafs sowie des Gehirns. Dadurch kommt es zu einem erhöhten Risiko für die folgenden gesundheitlichen Probleme:
- Bluthochdruck
- Herzinfarkt
- Schlaganfall
- Diabetes
- Magen-Darm-Erkrankungen
- Schlafstörungen
- Angsterkrankungen
- Depression
Durch die Wirkungen im Gehirn werden sowohl kognitive Prozesse wie das Arbeitsgedächtnis als auch emotionale Prozesse beeinträchtigt.
Hat Stress auch Auswirkungen auf das Immunsystem?
Chronischer Stress führt über die Erhöhung von Cortisol zu einer Reduktion der Anzahl Immunzellen und deren Fähigkeit, Erreger wirksam zu bekämpfen. Dadurch erhöht sich die Infektanfälligkeit, und bereits bestehende chronisch entzündliche Erkrankungen wie der Morbus Crohn können sich verschlechtern oder schlummernde Virusinfektionen wie Herpes Labialis (Fieberblasen) oder Herpes Zoster (Gürtelrose) reaktiviert werden.
Welche Methoden zur Stressbewältigung empfehlen Sie Ihren Patienten?
Grundsätzlich empfehlen wir, in erster Linie chronischen Stress zu vermeiden. Bei Phasen mit erhöhter Belastung ist es zu empfehlen, Erholungszeit in den Alltag einzubauen, um das Stresssystem wieder zu beruhigen und zur Ruhe zu kommen. Das heisst auch, regelmässige Pausen bei der Arbeit einzulegen sowie die Freizeit von der Arbeit abzugrenzen.
Das Ausüben von Hobbys wie Sport und Bewegung, Gärtnern, Musizieren sowie soziale Kontakte sind dabei im Sinne einer guten «Work-Life Balance» wichtige Faktoren.
Auch achtsamkeitsorientierte Techniken wie Meditation und Atemübungen sind sehr zu empfehlen. Dabei ist es wichtig, dass die verschiedenen stresspuffernden Aktivitäten Teil des Alltags sind und bei erhöhtem Anfall von Stress nicht vernachlässigt werden.
Wie wichtig ist regelmässige körperliche Bewegung für die Stressbewältigung?
Regelmässiger Sport respektive die Verbesserung der körperlichen Fitness hat ein sehr hohes und wissenschaftlich gut belegtes Potenzial, Stress abzubauen sowie gegenüber Stress resistenter zu werden und wird daher sehr häufig empfohlen, besonders bei Menschen, welche körperlich inaktiv sind.
Wie sieht es mit der Ernährung aus?
Ernährungsfaktoren spielen ebenfalls eine Rolle: Eine ausgewogene Ernährung wie die Mediterrane Diät führen zu einem besseren Schutz vor verschiedenen durch chronischen Stress verursachte körperliche Veränderungen. Die wichtigsten Faktoren einer gesundheitsfördernden Ernährung sind kurz zusammengefasst ein hoher Anteil an Gemüse und Früchten, mehr pflanzliche Proteine als Fisch und Fleisch, komplexe Kohlenhydrate wie dunkles Brot sowie regelmässig ungesättigte Fette wie Olivenöl.
Welche Rolle spielt die Arbeit bei der Entstehung von stressbedingten Beschwerden?
Die Arbeit spielt eine sehr wichtige Rolle, gerade weil berufstätige Menschen einen grossen Teil ihrer Zeit am Arbeitsplatz verbringen und dieser eine wichtige Funktion bezüglich Sinngebung und Bestätigung spielt. Daher können anhaltende Belastungen am Arbeitsplatz z.B. durch Konflikte und/oder fehlende Wertschätzung zu einer chronischen Stresssituation führen respektive diese aufrechterhalten.
Gibt es bestimmte Berufsgruppen, die besonders anfällig für stressbedingte Erkrankungen sind?
Gerade Berufsgruppen, die häufig mit sozialen Kontakten zu tun haben – wie im Gesundheitswesen – sind anfälliger für stressbedingte Erkrankungen. Dazu passt auch, dass die Definition des Begriffs «Burnout» durch H. J. Freudenberger aufgrund von Beobachtungen bei Mitarbeitenden in ambulanten Einrichtungen für Drogenkranke in New York entstanden ist.
Welche Rolle spielt die Schlafqualität?
Ein erholsamer Schlaf ist ausserordentlich wichtig, um in einem emotionalen Gleichgewicht zu bleiben, die Resistenz gegenüber Stress aufrechtzuerhalten und Eindrücke zu verarbeiten. Zugleich reagiert der Schlaf sehr sensibel auf Stress. Werden beispielsweise vor dem zu Bett gehen noch E-Mails gecheckt oder konflikthafte Gespräche geführt, kann das Einschlafen erschwert werden.
Bei welchem Anzeichen sollten die Alarmglocken schrillen?
Bei anhaltender Stressbelastung ist eine Durchschlafstörung häufig ein erstes Warnzeichen. Die dadurch bedingte verringerte Erholung gefährdet das Gleichgewicht zwischen Stress und Entspannung zusätzlich und die Belastbarkeit nimmt ab. Deshalb ist es bei einer Beeinträchtigung der Schlafqualität wichtig, diese wieder zu verbessern, z.B. durch konsequente schlafhygienische Massnahmen.
Gibt es bestimmte Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel, die bei der Stressbewältigung helfen können?
Medikamente werden erst bei diagnostizierten Stressfolgeerkrankungen wie Depression oder Angststörungen eingesetzt. Zu Nahrungsergänzungsmittel gibt es bisher kaum belastbare wissenschaftliche Befunde zu deren Effekt auf die Stresstoleranz. Durch eine ausgewogene Ernährung kann wie oben beschrieben bereits eine gute Basis für die Stressresistenz erreicht werden, ohne dass oftmals teure Nahrungsergänzungsmittel benötigt werden.
Welche Rolle spielt die mentale Gesundheit bei der Bewältigung von Stress?
Die mentale Gesundheit und chronischer Stress beeinflussen sich gegenseitig: Stress ist ein wichtiger Risikofaktor für psychische Erkrankungen und umgekehrt kann eine bestehende psychische Erkrankung, wie beispielsweise eine Depression, Angststörung oder Suchterkrankung, die Stresstoleranz reduzieren oder sich unter anhaltender Belastung verschlechtern.
Dr. med. Christian Imboden, EMBA
Ärztlicher Direktor und Vorsitzender der Klinikleitung