Frau Dr. Nicole Doser, Chefärztin des medizinischen Dienstes des EHC und Leiterin der geriatrischen Akutversorgung im Spital von Morges, erklärt, wie wir in Harmonie mit Körper und Geist altern können.
Frau Dr. Doser, mit höherem Alter wird der Körper schwächer und es treten gesundheitliche Probleme auf. Aufgrund dieses «programmierten Abbaus» begegnen Patienten und ihre Ärzte zahlreichen medizinischen Problemen, die mit dem Altern zusammenhängen, aber auch mit der Psyche der Personen, die spüren, dass sie altern. Wie kann man beidem begegnen?
In der Geriatrie geht es im Kern nicht nur darum, dass die Patienten möglichst lange leben. Die Priorität liegt darauf, dass die Patienten möglichst lange in einem möglichst guten Zustand und mit der bestmöglichen Lebensqualität leben. Diese Herangehensweise bestimmt die gesamte Therapie.
Aufgrund des medizinischen Fortschritts können wir heute also hoffen, noch länger bei guter Gesundheit zu leben. Wie kann man die Patienten dabei unterstützen, die Dinge mit der richtigen Einstellung anzugehen?
Indem wir das Alter positiv betrachten: Dass wir altern, ist kein schweres Schicksal, sondern eine grossartige Gelegenheit, vor allem, wenn wir es bei guter Gesundheit tun. Es ist doch toll, wenn wir sagen können, dass wir 80, 90 oder manchmal sogar 100 Jahre Zeit haben, unseren Lebensweg zu gehen, wenn die Bedingungen stimmen. Im Jahr 2030 wird im weltweiten Durchschnitt aller Länder jeder zweite Mensch mindestens 65 Jahre alt. Deshalb lautet das Ziel, alles dafür zu tun, unter den besten Bedingungen zu altern.
Ab welchem Alter gilt man als alt?
(Lacht) Das ist eine grosse Streitfrage! Es gibt einen Unterschied zwischen dem biologischen und dem chronologischen Alter. Auf meiner Station habe ich Patienten, die jünger als ich sind. Und trotzdem sind sie dort richtig. Denn körperlich sind sie 30 Jahre älter. Und im Gegensatz dazu gibt es ältere Menschen, die in bester Verfassung sind. Ich wiederhole es noch einmal: Die richtige Einstellung lautet, sich um die Voraussetzungen für die eigene körperliche, mentale und, im weitesten Sinne, spirituelle Gesundheit zu kümmern.
Wie können wir uns um diese Voraussetzungen kümmern? Indem wir unseren Lebensstil anpassen?
Natürlich muss man sich früh vorbereiten. Medizinisch betrachtet können wir zwar eine Hüfte oder Herzklappe ersetzen oder einen Schrittmacher einsetzen, um Symptome zu lindern. Doch idealerweise betreibt man Vorsorge, tut alles, damit die Organe im bestmöglichen Zustand bleiben. Dafür sollte man möglichst früh die Regeln einer guten Lebenshygiene beachten. Sich gut ernähren, nicht rauchen, regelmässig Sport machen … Je besser der allgemeine Gesundheitszustand, desto grösser Ihre Chance auf ein ruhiges Altern.
Doch es gibt auch Dinge, die man durch Vorsorge nicht verhindern kann, wie eine Demenz, Alzheimer, usw.
Da täuschen Sie sich! Vor 15 oder 20 Jahren gab es Vorhersagen für den Anteil der Demenzkranken im Jahr 2020. Doch tatsächlich liegen wir 20 oder sogar 30 Prozent darunter! Warum ist das so? Weil uns klar geworden ist, dass die Risikofaktoren für eine Demenz dieselben sind wie für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wenn man also Vorsorge gegen die zweiten betreibt, senkt man auch die Häufigkeit der ersten.
Werden diese degenerativen Erkrankungen nicht durch genetische Faktoren bestimmt?
Nicht nur. Schlafapnoe ist beispielsweise ein entscheidender Risikofaktor für eine Demenz. Und Fettleibigkeit ist einer der Gründe, die zu dieser Apnoe führen können. Indem man die Fettleibigkeit abbaut, verringert man die Schlafapnoe, das Gehirn wird im Schlaf besser durchblutet und erhält mehr Sauerstoff und dadurch sinkt das Risiko für eine Demenz.
Kann man kurzgefasst sagen, dass wir uns auf das Alter genau wie auf die Rente «vorbereiten» sollten?
Ich empfehle, sich um die eigene körperliche und geistige Gesundheit zu kümmern. Und nicht alles auf eine Karte zu setzen. Für die körperliche Gesundheit sollte man sich gesund ernähren, regelmässig Sport treiben und insbesondere schlechte Lebensgewohnheiten meiden. Für die geistige Gesundheit sollte man seinen Intellekt stimulieren, auf alles neugierig sein, aber auch versuchen, den im weitesten Sinne «spirituellen» Bereich anzugehen, also alles rund um Fragen zu Sinn und Wert des eigenen Lebens, Glauben, Identität. Anschliessend sollte man all diese Themen parallel weiterbearbeiten. Es bringt nichts, sich nur auf einen Aspekt zu konzentrieren, wenn die anderen nicht folgen. Das Rezept für ein «gesundes Altern» lautet Gleichgewicht, Harmonie, möglichst «ganz» zu sein.
In der Theorie klingt dieses Rezept eigentlich recht einfach.
Aber nur in der Theorie. Denn diese Theorie müssen wir in der Praxis anwenden. Allerdings sind unsere Lebensgewohnheiten nicht immer gesund und wir müssen uns anstrengen, um sie zu ändern. Und das müssen die Patienten selbst tun, indem sie Verantwortung übernehmen. Dazu kommt die Tatsache, dass wir uns ständig an eine Welt anpassen müssen, die sich schnell weiterentwickelt, an einen beschleunigten Lebensrhythmus, an neue Geräte, neue Technologien.
Wie sollte man die «Anti-Aging-Medizin» einschätzen?
Um einen Bedarf zu decken, kann man natürlich Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, Statine, Hormone, Vitamine. In der Medizin gibt es auch grosse technische Fortschritte wie Prothesen und Herzklappen oder Exoskelette, die in der Zukunft körperliche Schwächen abmildern können. Vor 20 Jahren hatten Patienten mit einer Ejektionsfraktion des Herzens von 20 Prozent eine Lebenserwartung von sechs Monaten. Heute können dieselben Patienten mehrere Jahre leben. Und das bei guter Lebensqualität.
Die geriatrische Medizin hat sich in ihrer Herangehensweise stark weiterentwickelt.
Der medizinische Aspekt ist noch immer sehr wichtig. Die Schwierigkeit besteht darin, dass alles komplexer geworden ist. Zu Beginn des Jahrhunderts behandelte man Patienten im Spital wegen einer einzelnen Erkrankung. Heute weisen die meisten Patienten eine Reihe von Erkrankungen auf: Sie leiden an einer Lungeninfektion, die zu einer kardialen Dekompensation führt, welche Probleme mit den Nieren und einen Verwirrtheitszustand nach sich zieht. Deshalb essen sie nicht mehr und rutschen in eine Mangelernährung mit elektrolytischen Folgeproblemen. Und da die Patienten nur schlecht laufen können, riskieren sie zu fallen und sich etwas zu brechen … Man behandelt nicht mehr nur ein einzelnes Problem. Sondern den Patienten insgesamt. Und jeder Fall ist anders. Deshalb muss man bei allen Patienten die Therapie anpassen, und sie anhand der jeweiligen Entwicklung bewerten. Und dabei sollte man immer daran denken, die bestmögliche Lebensqualität zu ermöglichen.
Also mussten sich auch die Spitäler anpassen.
Das ist die Grundvoraussetzung. Das Spital ist der Ort, an dem die Patienten besonders abhängig werden. 20 Prozent der funktionellen Verluste finden im Spital statt. Bettlägerige Patienten mit Lungenentzündung verlieren täglich 7 Prozent an Muskelmasse und laufen nicht mehr. Darum ist es entscheidend, sie zum Aufstehen und zu Bewegung zu animieren.
Wir haben jetzt viel über die körperlichen Aspekte gesprochen. Aber können wir auch geistig trainieren, um das Gehirn im bestmöglichen Zustand zu bewahren?
Absolut. Sich weiter seinen Interessen widmen, das Gehirn wachhalten, seine Kontakte pflegen – all das ist sehr wichtig. Bei der Ergotherapie werden etwa Übungen wie Kreuzworträtsel, Lesen oder Puzzles angeboten. Auf der Station für geriatrische Akutversorgung haben wir auch einen therapeutischen Garten eingerichtet, in dem die Patienten Pflanzen und aromatische Kräuter pflegen, um weitere Sinne wie das Sehen, Tasten und Riechen zu stimulieren.
Länger gesund zu leben, ist eine schöne Idee, aber führt das auch zu anderen Problemen?
Selbstverständlich. Sehr alte Menschen stehen weiteren Problemen gegenüber, an die man nicht unbedingt denkt. So sind sie etwa mit über 100 Jahren geistig oft gute 20 Jahre jünger als ihr Körper. Das Problem ist, dass sie in einer Welt «allein» sind, in der alle ihre Freunde verstorben sind, in der niemand sonst das erlebt hat, was sie erlebt haben. Und deshalb fühlen sie sich sehr fremd. Daran arbeiten beispielsweise die Seniorenuniversitäten. Sie helfen ihnen dabei, sich wieder zu orientieren, zu integrieren.
Und was ist mit ihrem Umfeld?
Das muss lernen, auf neue Art an die Dinge heranzugehen, vor allem am Lebensende der Person. Im Durchschnitt hatte das Umfeld früher etwa ein Jahrzehnt Zeit, um sich auf den Abschied von einer Person vorzubereiten. Heute sieht man Menschen in hohem Alter, denen es bisher sehr gut gegangen ist, die dann innerhalb weniger Tage versterben. Denn das ist das Ende des Wegs. Sie haben bis zum Ende bestmöglich gelebt. Die Familie muss nun schneller lernen, mit dieser Trauer zu leben. Diesen Preis müssen wir zahlen.