Dr. Boris Gojanovic, Facharzt für Sportmedizin und Leiter der Abteilung Gesundheit und Leistung im Hôpital de La Tour in Meyrin, erklärt, warum wir uns unbedingt bewegen und Sport treiben sollten.
Herr Dr. Gojanovic, inwieweit ist unser bewegungsarmer Lebensstil für den Anstieg bestimmter Erkrankungen verantwortlich?
Es versteht sich von selbst, dass Bewegungsarmut eine der Krankheiten unseres Jahrhunderts ist. Wir beobachten einen Anstieg der Zeit, die die Menschen sitzend verbringen, insbesondere aufgrund der Veränderungen in der Arbeitswelt und bei den Freizeitaktivitäten, bei denen wir immer länger vor einem Bildschirm oder Fernseher sitzen. Zahlreiche Studien zeigen, dass mehr Bewegungsmangel mit mehr chronischen Erkrankungen einhergeht.
Also würde es ausreichen, sich wieder zu bewegen?
Ganz genau. Wenn Personen, die viel sitzen, wieder aufstehen und häufiger laufen, verringert sich das Auftreten chronischer Erkrankungen. Dieser Zusammenhang lässt sich klar benennen und sehr viele Gesundheitsprobleme lassen sich auf einen übermässigen Bewegungsmangel zurückführen. Diese Erkrankungen kann man in zwei Kategorien einteilen. Einerseits chronische Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen und andererseits Erkrankungen des Bewegungsapparats: Verlust der Muskelkraft und Schmerzen im Rücken, Nacken und/oder an den Schultern.
Was zu Problemen für die Betroffenen und das Gesundheitssystem führt...
Ganz genau. Aufgrund all dieser Muskel- und Skeletterkrankungen suchen die Menschen regelmässig Gesundheitsdienstleister auf – ob Allgemeinmediziner, Physiotherapeuten, Osteopathen oder andere Therapeuten –, was für sie und die Gesamtgesellschaft beträchtliche Kosten verursacht.
Was geht in unserem Organismus vor sich, wenn dieser nicht ausreichend sportlich gefordert wird?
Wir bemerken einen Verlust der Muskelaktivierung, Muskelmasse und – daraus resultierend – der Kraft. Ausserdem beobachten wir eine Verringerung von Knochenfestigkeit (erhöhtes Bruchrisiko), der Grösse (Durchmesser) der Blutgefässe, dickflüssigeres Blut und daraus resultierend höhere Risiken für Blutgerinnsel (vor allem in den Koronargefässen, dadurch Infarktrisiko), eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen und schwerere Verläufe (Coronavirus, etc.) sowie Veränderungen der Gemütslage (Depressionen).
Kann man diesen Problemen auch anders begegnen, ohne Trainingsdress und Sportschuhe anzuziehen?
Zu einem gesunden Lebensstil gehören mehrere Aspekte, auch wenn wir nicht alle kennen und in Bezug auf chronische Erkrankungen genetisch nicht alle gleich sind. Doch eines ist sicher: Schlaf ist von grösster Bedeutung, genau wie die Verarbeitung und der Abbau von Stress, ein unterstützendes und liebevolles Umfeld, das Gefühl, nützlich zu sein und etwas zur Gesellschaft beizutragen, ein gleichbleibendes, gesundes Gewicht mit ausgewogener Ernährung (selbst wenn dieses Konzept schwer zu definieren ist, da es ganz individuell ausfällt). All diese Elemente tragen, gemeinsam mit körperlicher Betätigung, zu einem besseren Leben bei.
Welche praktischen Ratschläge haben Sie für Menschen, die den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen?
Höchstens 30 Minuten am Stück sitzen bleiben. Bei jeder Gelegenheit laufen, selbst wenn es die zwei Minuten bis zum Drucker sind. Wenn Kollegen einige Meter entfernt sind, aufstehen und die Informationen persönlich überbringen, anstatt eine E-Mail zu verschicken. Regelmässig Übungen zur Mobilisierung und Dehnung machen (Nacken, Schultern, Hüften, Knöchel). Meetings bewusst mit einem Spaziergang verbinden (zu zweit oder zu dritt ist das einfach umzusetzen und tut gut). Vor und nach der Arbeit spazieren gehen, um sich zu entspannen, wenn auch nur 10 oder 15 Minuten. Dies für die eigene Gesundheit tun, wann immer es möglich ist. Und regelmässig trinken: Eine einfache Trinkflasche beugt Unwohlsein und Kopfschmerzen vor.
Profisportler trainieren täglich, um ihr Leistungsniveau zu erreichen und es auch zu halten. Wie viel Bewegung benötigen durchschnittliche Erwachsene, um die eigene Gesundheit zu bewahren?
Jeder Schritt zählt! Wenn man Bewegung in den Mittelpunkt stellt, bemerkt man schnell, dass es nicht darum geht, nur Schritte zu zählen, oder wie viel Gewicht man verliert. Bewegung sollte bei uns in jeder Situation an erster Stelle stehen: Man nimmt beispielsweise nicht mehr die Rolltreppe, sondern lieber die Treppe. Mit dieser Methode macht man sich von Festlegungen und Bewegungsempfehlungen frei.
Gibt es eine Art «Sportplan», der für alle anwendbar ist? Einmal pro Tag? Pro Woche?
Nein, eigentlich nicht. Das haben Sie bei der Lektüre dieses Artikels sicher verstanden. Regelmässigkeit ist das A und O, doch bei der Art der Bewegung kann man variieren und sich dabei sogar nach den Jahreszeiten richten.
Gibt es eine Methode, einen Trick, Ratschläge, um sich zur Bewegung zu motivieren?
Ja: sich mit Leuten umgeben, die es schon «können» und ihnen zuhören. Ganz sicher haben sie Sie schon einmal eingeladen, sich ihnen bei bestimmten Aktivitäten anzuschliessen. Und sei es für den Anfang auch nur ein kleiner Spaziergang.