Ein Schlaganfall kann ganz plötzlich auftreten und das Leben der betroffenen Person um 180 Grad verändern. Wie es dazu kommen kann, welche Symptome man beachten muss und was man präventiv machen sollte, erklärt Prof. Dr. med. Krassen Nedeltchev, Chefarzt Neurologie, Leiter Stroke Center und Präsident Ärztekonferenz des Kantonsspitals Aarau, im Interview.
Herr Nedeltchev, was sind die häufigsten Ursachen für einen Schlaganfall?
Die meisten Schlaganfälle entstehen durch die plötzliche Unterbrechung der Blutzufuhr zu einem bestimmten Teil des Gehirns. Sie werden als Hirninfarkte bezeichnet (85 % aller Schlaganfälle). Deutlich seltener sind die intrakraniellen Blutungen, bei denen eine hirnversorgende Arterie rupturiert (platzt). Abhängig von der Lokalisation der Blutung unterscheidet man zwischen Hirnblutungen (die Blutansammlung ist im Hirngewebe) und Subarachnoidalblutungen (das Blut befindet sich im Subarachnoidalraum, d. h. zwischen den verschiedenen Schichten der Hirnhaut). Hirninfarkte und Hirnblutungen haben oft die gleichen Risikofaktoren, z. B. Bluthochdruck oder Nikotinkonsum, ihre Ursachen sind jedoch unterschiedlich.
Generell unterscheidet man zwischen «nicht modifizierbaren» und «modifizierbaren» Risikofaktoren, welche das Schlaganfallrisiko erhöhen
- Nicht modifizierbar: Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, genetische Prädisposition etc. Das Schlaganfallrisiko nimmt mit dem Alter zu, Männer sind früher in ihrem Leben betroffen, wobei Frauen eine höhere Sterblichkeit aufweisen. Patienten afrikanischer, hispanischer oder asiatischer Herkunft haben ein höheres Risiko im Vergleich zur kaukasischen Population.
- Modifizierbar: Diese sind deutlich wichtiger, da deren effiziente Bekämpfung zu einer 80-prozentigen Risikoreduktion führen kann. Zu dieser Gruppe gehören Bluthochdruck, Diabetes, Nikotinkonsum, Übergewicht, sesshafter Lebensstil, unausgewogene Ernährung mit hauptsächlich fett- und energiereichem Lebensmittelkonsum sowie rotem Fleisch. Auch ein schädlicher Alkoholkonsum erhöht signifikant das Risiko eines Schlaganfalls.
Welche Symptome deuten auf einen Schlaganfall hin und wie wichtig ist eine schnelle Reaktion?
Die Symptome eines Schlaganfalls unterscheiden sich je nach Hirnregion, die aufgrund des Verschlusses des entsprechenden Hirngefässes unzureichend durchblutet ist. Zu den häufigsten Symptomen gehören plötzlich einsetzende halbseitige Lähmungen oder verminderte Hautempfindlichkeit, einseitig hängender Mundwinkel, Sprech- oder Sprachstörungen, Sehstörungen (inkl. Doppelbilder), heftige Kopfschmerzen, Schwindel oder Störungen des Bewusstseins. Der Verdacht eines Schlaganfalls ergibt sich vor allem aus dem plötzlichen Auftreten der Symptome und deren Einseitigkeit (Lateralisierung) am Körper.
Gibt es ungewöhnliche Symptome oder Anzeichen, die auf einen bevorstehenden Schlaganfall hinweisen können?
Die meisten Schlaganfälle treten ohne Vorboten auf, d. h. schlagartig (auf Englisch: Stroke). Etwa 20 Prozent aller Schlaganfälle gehen kurzzeitige Ereignisse voraus, die sich innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden spontan zurückbilden. Sie werden als Transitorische Ischämische Attacken (TIA) bezeichnet, da sie keine bleibende Schäden im Hirngewebe hinterlassen. Die Ursachenabklärung nach einer TIA ist von zentraler Bedeutung, da die Vorbeugung eines darauf folgenden und potenziell invalidisieren Hirninfarktes je nach Ursache unterschiedlich sein kann. So müssen beispielsweise Stenosen der hirnversorgenden Arterien chirurgisch oder endovaskulär behandelt werden, während kardioembolische Schlaganfälle bei Patienten mit Vorhofflimmern meistens einer Antikoagulation bedürfen.
Welche diagnostischen Verfahren werden zur Identifizierung eines Schlaganfalls eingesetzt?
Das Allerwichtigste ist eine neurologische klinische Untersuchung, die die Symptome einer bestimmten Hirnregion zuordnen soll. Dies erfolgt in spezialisierten Schlaganfallzentren – Stroke Units oder Stroke Centers. Die klinische neurologische Untersuchung sollte so schnell wie möglich erfolgen (in der Regel innerhalb von viereinhalb Stunden, wobei ein längeres Zeitfenster – bis zu 24 Stunden – eher die Regel als die Ausnahme ist).
Wie geht es dann weiter?
Wenn die Verdachtsdiagnose eines Schlaganfalls gestellt wurde, erfolgt eine gezielte bildgebende Untersuchung – eine Computertomographie (CT) zur Darstellung des Hirngewebes, unmittelbar danach eine CT-Angiographie zur Darstellung der hirnversorgenden Arterien und eine CT-Perfusion zur Darstellung der Durchblutung des Gehirns. In manchen Zentren wird in der Akutphase eine Kernspintomographie (MRI) statt CT eingesetzt.
Was hat sich in den letzten Jahren bei der Diagnostik verändert?
In den letzten Jahren wird in grösseren Schlaganfallzentren künstliche Intelligenz zur Berechnung der Infarktgrösse und der Beurteilung der Kollateralversorgung eingesetzt. Dies ermöglicht eine objektive und quantifizierbare Entscheidungsfindung in Bezug auf die Behandlungsmodalitäten und das therapeutische Zeitfenster.
Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung, um die negativen Auswirkungen eines Schlaganfalls zu minimieren?
Das primäre Behandlungsziel in der Akutphase (d. h. in den ersten Stunden nach dem Symptombeginn) ist die Wiedereröffnung (Rekanalisation) der verschlossenen Hirnarterie. Dies erreicht man entweder mit der intravenösen Gabe von Thrombolytika (Gerinnsel auflösende Medikamente) oder im Rahmen einer endovaskulären Katheter gestützten Intervention, bei welcher der Thrombus (das Gerinnsel) mit Hilfe von sogenannten Stentretrievern aus der verschlossenen Arterie herausgezogen wird. Das Letztere ist eine hochkomplexe Intervention und obliegt der Bestimmungen der «Hochspezialisierten Medizin, HSM». Basierend auf zahlreichen Qualitätskriterien und Mindestzahlen an behandelten Patienten pro Jahr können HSM-Eingriffe ausschliesslich in dafür zertifizierten Zentren durchgeführt werden. In der Schweiz gibt es aktuell zehn solche Zentren.
Wie wichtig ist die Rehabilitationszeit nach einem Schlaganfall?
Sehr wichtig! Es ist kein Zufall, dass der Behandlungserfolg nach einem Schlaganfall erst nach drei Monaten anhand von weltweit anerkannten klinischen Skalen (z. B. Modified Rankin Scale) gemessen wird. In den meisten Fällen ist zu diesem Zeitpunkt die stationäre Rehabilitation schon weitgehend abgeschlossen. Wir Neurologen in den Akutspitälern staunen oft, welche Fortschritte unsere Patientinnen und Patienten in der Rehabilitation gemacht haben, wenn wir sie nach drei Monaten wiedersehen. Schweizweit belaufen sich die Kosten der stationären Neurorehabilitation auf rund acht Prozent aller Behandlungskosten bei Schlaganfällen. Dies ist zweifelsohne ein Indiz für die Kosteneffizienz der stationären Rehabilitation.
Gibt es spezifische Massnahmen, die ergriffen werden können, um das Risiko eines erneuten Schlaganfalls zu verringern?
Die Vorbeugung eines erneuten Schlaganfalls bezeichnet man als Sekundärprävention. Diese berücksichtigt die Ursache des Schlaganfalls und kann von Fall zu Fall unterschiedlich sein. So werden Schlaganfälle aufgrund von Erkrankungen der grossen oder kleinen hirnversorgenden Arterien mit Trombozytenaggregationshemmern behandelt, während kardioembolische Schlaganfälle in der Regel eine orale Antikoagulation bekommen. Schlaganfallpatienten, bei denen ein sogenannter Rechts-Links-Shunt im Herzen diagnostiziert wird, können nach Erfüllung bestimmter Kriterien einen Verschluss des offenen Foramen ovale bekommen usw. Bei allen Patienten bleibt die engmaschige Kontrolle der modifizierbaren Risikofaktoren von zentraler Bedeutung.
Welche Rolle spielt die Ernährung bei der Prävention von Schlaganfällen und gibt es bestimmte Lebensmittel, die besonders schützend wirken?
Eine ausgewogene Ernährung, bestehend aus Früchten, Gemüse, Fisch, Geflügel, pflanzlichem Öl (auch als mediterrane Diät bekannt), reduziert signifikant das Risiko eines Schlaganfalls.
Welche Fortschritte gibt es in der Forschung zur Behandlung und Prävention von Schlaganfällen?
Aktuell wird an neuen Antikoagulanzien (d. h. Blutverdünnern) geforscht, die eine sehr spezifische Thrombus-Affinität aufweisen und somit das Blutungsrisiko minimieren. Ständig werden auch die Devices (Stentretriever), mit denen die Gerinnsel aus den verschlossenen Gefässen herausgeholt werden, verbessert. Zudem werden mobile CT-Scanner entwickelt, die in einer Ambulanz Platz finden und die Diagnosestellung vor Ort, beim Patienten, ermöglichen. Neulich wurde auch ein Roboterarm entwickelt, mit welchem die Patientin endovaskulär behandelt werden kann, wobei der Operator – ein hochspezialisierter interventioneller Neuroradiologe – sich physisch an einem anderen Ort/Kontinent aufhält und den Roboterarm über Remote Control steuert.
Gruppen von Ursachen für Hirninfarkte
Erkrankungen der grossen hirnversorgenden Arterien (auf Englisch: Large Artery Disease)
Dabei begünstigen diverse Risikofaktoren wie etwa unbehandelter Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, Diabetes, Übergewicht, Rauchen etc. die Entstehung von atheromatösen Plaques (Kalkablagerungen) an den Abzweigungen der hirnversorgenden Arterien. Mit der Zeit führen diese Plaques zur Einengung der Arterie. Bei den eingeengten Stellen entstehen Turbulenzen im Blutfluss, die eine Thrombusbildung begünstigen. Teile des Thrombus lösen sich und werden mit dem Blutfluss ins Gehirn «geschleudert», wo sie eine Arterie und somit die Blutversorgung komplett ausschalten.
Erkrankungen der kleinen hirnversorgenden Arterien (auf Englisch: Small Artery Disease)
Meistens führen ein unbehandelter Bluthochdruck oder ein schlecht eingestellter Diabetes zu einer langsam fortschreitenden Gefässwandverdickung der kleinsten (perforierenden) Arterien des Gehirns, die dann mit der Zeit komplett zugehen. Ein maximal 1,5 cm grosses Areal im Gehirn wird nicht mehr mit Blut versorgt und infarziert. Dieses Areal bezeichnet man als «Lakune». Eine einzelne Lakune muss nicht zwingend Symptome oder Beschwerden verursachen. Das Vorliegen mehrerer Lakunen kann im Verlauf zu einer vaskulären Demenz führen. Nebst Bluthochdruck, Diabetes oder Rauchen wurden in den letzten Jahren eine Reihe von genetischen Faktoren identifiziert, die zu einer Small Artery Disease führen können. Das wohl bekannteste Beispiel ist die CADASIL – eine vererbliche Erkrankung, die ganze Familien betrifft.
Kardioembolische Hirninfarkte
Hier stellen verschiedene Herzerkrankungen die Ursache des Hirninfarkts dar. Die wohl häufigste und bedeutendste Herzerkrankung, die zu einem Hirninfarkt führen kann, ist das Vorhofflimmern (VHF). Es handelt sich um eine Herzrhythmusstörung, bei welcher die Vorhöfe, die normalerweise den regelmässigen Herzrhythmus bestimmen, eine unkoordinierte elektrische Leitungsfunktion aufweisen. In der Folge kommt es vorübergehend oder permanent zu einer Arrhythmie und einer damit verbundenen unvollständigen Blutentleerung der Herzvorhöfe. Dies wiederum begünstigt eine Thrombusbildung; Teile dieser Thrombi (Gerinnsel) können mit dem Blutfluss ins Hirn verschleppt werden, wo sie eine Hirnarterie verstopfen. Zahlreiche Herzkrankheiten können die Entstehung von Gerinnseln im Herzen begünstigen und gelten als Ursachen eines Schlaganfalls. Darunter sei auch das offene Foramen ovale erwähnt – eine Schlaganfallursache bei jungen Erwachsenen.
Seltene Schlaganfallursachen
Diese sind besonders wichtig bei jungen Schlaganfallpatientinnen und -patienten. Zu dieser Gruppe zählen wir beispielsweise Dissektionen der Halsgefässe – ein Riss in der Gefässwand, der entweder spontan oder nach leichtem Trauma entstehen kann und die Arterie entweder vollständig verschliesst oder eine Thrombusbildung begünstigt, oder auch Entzündungen der hirnversorgenden Arterien (Vaskulitis).
Kryptogene Schlaganfälle
Das ist eine Gruppe von Hirninfarkten, bei denen trotz ausgedehnter Abklärungen die Ursache unklar bleibt. Besonders bei jungen Erwachsenen beträgt die Häufigkeit der kryptogenen Hirninfarkte 40 Prozent aller Schlaganfälle – dies auch in grossen universitären Schlaganfallzentren. Trotzdem kann man auch bei den kryptogenen Hirninfarkten eine wirksame Sekundärprävention (d. h. Vorbeugung weiterer Ereignisse) betreiben.