Gemäss Medienberichten werden in Europa immer mehr morphinartige Schmerzmittel (Opioide) verschrieben. Mediziner und schlagen Alarm und warnen vor einer Suchtwelle. Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos, Chefarzt und Klinikdirektor Universitäres Notfallzentrum (Inselspital Bern), äussert sich zum Thema.
Herr Exadaktylos, warum spricht man in den USA und Europa zunehmend von einer Opioid-Epidemie?
In den letzten Jahren sind immer mehr opioide Schmerzmittel auf den Markt gekommen und werden auch zünftig verschrieben. Dies ist prinzipiell gut so, denn diese Mittel sind sehr wirksam und niemand sollte Schmerzen haben müssen. Allerdings haben diese Schmerzmittel mindestens zwei grosse Nachteile: Je nach Präparat gibt es eine mehr oder weniger schnell eintretende Abhängigkeit. Und zweitens braucht man dadurch auf die Dauer immer höhere Dosen, welche irgendwann auch lebensgefährlich werden können (z.B. Atemstillstand). Neben der Schmerzlinderung haben diese Medikamente eine stimmungsaufhellende Wirkung, auf die man früher oder später nicht mehr verzichten kann. Setzt man die Medikamente ab, stürzt man in ein tiefes Loch, selbst wenn die Schmerzen weg sind. Rettung bringen dann nur noch mehr opioidhaltige Medikamente.
Ist Morphium grundsätzlich schädlich?
Ganz wichtig festzuhalten ist, dass es sehr viele Patientengruppen gibt, welche diese Art von Schmerzmitteln unbedingt benötigen und von diesen Medikamenten massiv in der Lebensqualität profitieren können. Dies sind unter anderem Patienten mit chronischen Schmerzen oder Krebsleiden. Wenn aber Antibiotika unkontrolliert eingesetzt werden, können sich resistente Erreger bilden – in ähnlicher Weise schadet auch der unkontrollierte Einsatz von Opioiden. Dies bezieht sich auf die Dosis, Packungsgrösse und die Behandlungsdauer.
Wie kam es dazu?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Schuldzuweisungen sind hier falsch. Eine meiner persönlichen Theorien beruht darauf, dass wir eine schnelllebige Gesellschaft sind, die alles zu vollster Zufriedenheit wünscht und möglichst günstig leben möchte. Schmerz ist eine Entzündung und benötigt Zeit, um zu heilen. Bei Halsschmerzen geben wir ja auch nicht gleich das stärkste Antibiotikum, welches auf dem Markt erhältlich ist. Auf jeden Fall beobachte ich vor allem bei jüngeren Patienten einen immer stärkeren Drang, so schnell wie möglich wieder schmerzfrei, fit und aktiv zu sein. Aber auch Druck vom Arbeitsumfeld ist zu spüren. Nur wenige sind gerne wegen Schmerzen krankgeschrieben. Sind die Medikamente «zu schwach», der Schmerz nicht schnell genug weg, dann war der Arztbesuch «für nüüt». Auf der anderen Seite gibt es immer noch viele Patienten, die unbedingt sehr starke Medikamente brauchen und leiden, weil sie diese nicht bekommen.
Was können Ärzte dagegen tun?
Auf der Notfallstation des Inselspitals wenden wir das international akzeptierte WHO-Stufenschema für Schmerzen an. Dieses sieht einen stufenartigen Einsatz von Schmerzmitteln, von schwach bis ganz stark, über einen gewissen Zeitraum und entlang einer zehnstufigen Schmerzempfindungsskala vor. Es braucht in der Regel etwas Geduld, aber oft lohnt es sich. Wir versuchen dies den Patienten zu erklären, manche verstehen es und manche leider weniger. Ausgenommen davon sind natürlich Patienten mit starken Schmerzen, oder aufgrund einer chronischen Krankheit.
Was kann man als Patient tun?
Wie gesagt, es gibt nicht «den Patienten». Ein kurzzeitiger Einsatz von Schmerzmitteln ist in der Regel kein Problem. Muss man länger Schmerzmittel nehmen, dann sollte man das Gespräch mit seinem Arzt suchen, um zu verstehen, was man nimmt und warum. Jeder Arzt ist froh um diese Diskussion, denn niemand möchte den Patienten «Schmerzen leiden sehen», das sagt schon der Hippokratische Eid.