Der Notfall-Professor warnt: «Das Thema Kinder und Schule ist hochsensibel»

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Quelle: TCS MyMed

Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos ist Chefarzt und Direktor des Universitären Notfallzentrums am Inselspital und Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Notfall- und Rettungsmedizin.

Herr Professor, der Bundesrat lockert die bestehenden Massnahmen immer mehr. Kehren Sie auf der Notfallstation am Inselspital nun auch wieder zum Normalbetrieb zurück?
Eine Notfallstation kennt per se keinen «Normalbetrieb». Unser Auftrag ist es, Notfälle jeder Art abzufangen. Eine Pandemie gehört dazu. Wir sind jedoch dabei, einen sicheren Parallelbetrieb von medizinischen und chirurgischen Notfällen sowie Patienten mit einer Corona-Infektion auf längere Zeit sicherzustellen. Wir sprechen hier von Wochen und Monaten. Dies ist sehr komplex und erfordert eine gute Planung und Infrastruktur. Wir werden aber sehr gut vom Inselspital unterstützt und sind überzeugt, dass wir diese erneute Herausforderung meistern können.

Denken Sie, dass wir unter Umständen einen zweiten oder mehrere Lockdowns erleben werden bis ein Impfstoff kommt, und werden Sie sich auch impfen lassen?
Wenn es zu einer erneuten «Corona-Welle» kommt, muss man auch diese Massnahmen wieder diskutieren. Ich gehe davon aus, dass wir Impfstoffe bis zum Herbst haben werden. Auch Schweizer Forscher wie mein Berner Kollege Prof. Bachmann sind da an vorderster Front dabei. Ich habe grosses Vertrauen in ihn. Und ja, ich werde mich impfen lassen.

Wenn in der kommenden Woche gleich alle zum Coiffeur, Zahnarzt und zur Massage rennen, werden wir dann nicht wieder einen exponentiellen Anstieg der Fallzahlen erleben?
Wer ungebremst vom «Social Distancing» ins Gegenteil verfällt und glaubt, alles wäre vorbei wie in einem bösen Traum, der irrt sich gewaltig. Das Virus konnte aufgrund der nationalen und internationalen Massnahmen zurückgedrängt werden. Eine einzige Person reicht jedoch aus, um das Virus wieder in den Umlauf zu bringen, und wenn wir nicht aufpassen, sind wir wieder dort, wo wir vor einem Monat angefangen hatten. Deshalb braucht es weiterhin eine Kombination aus «HAM»; Händehygiene, Abstand halten und evtl. Mundschutz.

Mitte Mai öffnen die Schulen. Viele Eltern haben TCS MyMed geschrieben, dass sie sich grosse Sorgen machen und dann quasi schutzlos einer Corona-Ansteckung ausgeliefert sein werden. Wie sehen Sie das?
Je länger die Krise dauert, desto sensibler werden die Menschen und umso wichtiger ist eine gute Kommunikation. Das Thema Kinder und Schule ist hochsensibel und die Kommunikation war zu dem Thema nicht wirklich geglückt. Nach wie vor haben wir grosse Wissenslücken, was das Thema Kinder, Coronavirus-Übertragung und die Ansteckung anderer Personen angeht. Vermutlich ist dies eine der grössten epidemiologischen Lücken, die wir bisher haben. Ich persönlich bin auch Vater von grundschulpflichtigen Kindern und hoffe auf eine Regelung, die den Schutz der Kinder und Eltern sowie den Wunsch nach Beaufsichtigung und einem vernünftigen Lehrbetrieb ausbalanciert. Aber nicht nur die Eltern liegen mir am Herzen, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer, sowie das übrige Schulpersonal die unbedingt gesund bleiben müssen. Eine Mischung aus Pflichtprogramm und Freiwilligkeit könnte hier eine Lösung bringen, da es ja dann nur noch sechs Wochen bis zu den Sommerferien sein werden. Grosse Risiken sollten meiner Meinung nach keine eingegangen werden.

Eine weitere Leserfrage: «Kann man diesen Sommer ans Meer fahren?»
Ja, das kann man theoretisch schon, sofern die Ferienländer ihre Feriengebiete und Grenzen freigeben, wovon ich zum jetzigen Zeitpunkt ausgehe, und es genug Flugkapazitäten gibt, was ich im Moment noch bezweifle, wenn die «Social Distancing»-Massnahmen nicht international aufgehoben werden. Nachbarsländer mit Bergregionen haben sich ja bereits vorsichtig optimistisch bezüglich der Ferienzeit geäussert. Die Frage, ob man sich im Urlaub mit Corona infizieren kann, lässt sich von niemandem beantworten. Vermutlich kommt es auch auf die Art des Urlaubs an. Ist man im eigenen Camper unterwegs, wohnt man in einem kleinen Hotel oder im eigenen Haus oder will man gar auf ein Kreuzfahrtschiff? Wir werden auf jeden Fall einen speziellen Sommer erleben. Viele planen jetzt den Urlaub, aber viele können sich den verdienten Urlaub auch gar nicht mehr leisten. Diese Familien sollten wir bei der ganzen Urlaubsdiskussion auch nicht vergessen.

Laut Medienberichten sprechen Covid-19-Patienten mit einer Lungenentzündung nicht immer auf die klassischen Therapien an. Woran könnte das liegen?
Eine wichtige Frage. Bei der durch das Virus verursachten Schädigung der Lunge handelt es sich nach neuester Forschung eben nicht nur um eine klassische Lungenentzündung, sondern um eine schwerwiegende Schädigung auch kleinerer Gefässe, wie sie in der Lunge vorkommen. Die Therapie solcher Schädigungen ist sehr kompliziert und hat nicht immer Erfolg, vor allem wenn bereits ein fortgeschrittenes Stadium erreicht ist.

Ein österreichischer Arzt warnt, er habe auch bei Patienten mit milden Verläufen schwere Schäden der Lunge entdeckt und rät Corona-Genesenen zur Nachuntersuchung. Wie beurteilen Sie das?
Ein deutscher Mediziner warnt, ein österreichischer Arzt berichtet und ein amerikanischer Arzt hat die Lösung gefunden. So oder ähnlich hören wir es fast täglich. Die bei der Therapie der Corona-Infektion involvierten Ärztinnen und Ärzte und die anderen Fachdisziplinen in der Schweiz orientierten sich an den validierten Informationen ihrer jeweiligen Fachgesellschaften, welche Ergebnisse aus organisierter Forschung, aber auch Berichte Einzelner sammeln, auswerten und zur Verfügung stellen. Dass jemand, welcher eine schwere Corona-Infektion mit Lungenbeteiligung durchgemacht hat, Nachkontrollen braucht, versteht sich von selbst.

Verwenden Sie diese Informationen nicht als alleinige Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen. Fragen Sie bei gesundheitlichen Beschwerden Ihren Arzt oder Apotheker. Surfen im Internet ersetzt den Arztbesuch nicht.

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