Prof. Dr. med. Aristomenis Exadaktylos ist Chefarzt und Direktor des Universitären Notfallzentrums am Inselspital.
Herr Professor, was halten Sie von einem Lockdown für Ungeimpfte in der Schweiz?
Nicht sehr viel, denn auch ungeimpfte und nicht genesene Menschen müssen zur Arbeit, in den Supermarkt, zur Apotheke oder das Haustier Gassi führen und haben Menschenrechte. Das ist eine politische Blendgranate und bringt nichts. Ich sehe darin auch keinen Sinn.
Impfen, impfen und noch mehr impfen. Sollte flankierend nicht wieder vermehrt das flächendeckende Maskentragen durchgesetzt werden?
Ich denke schon, aber was wir jetzt sehen, ist der klassische Flickenteppich Schweizer Verantwortlichkeiten. Das verwirrt und hilft nicht wirklich.
Ärzte, Rettungssanitäter und Pflegepersonal ärgern sich öffentlich über Ungeimpfte – müssen ungeimpfte Personen bei einer Covid-Hospitalisierung mit einer schlechteren Behandlung rechnen?
Nein, nirgends. Das Gesundheitsfachpersonal sieht den Menschen und nicht seine Handlungen. Wir beurteilen nicht, was man als Mensch tut oder nicht tut, sondern kümmern uns um die Krankheiten und Verletzungen. Wir sind gegen ein Zweiklassensystem.
«Jeder ungeimpfte Mensch ist verantwortungslos, egoistisch und birgt die Gefahr, das Gesundheitssystem zu überlasten.» Wie denken Sie über diese Aussage?
In einer Demokratie hat man das Recht auf eine gemeinsame Entscheidungsfindung. Der Rahmen für Entscheidungen wird durch den Bund vorgegeben. Dieser sendet aber seit nun fast zwei Jahren regelmässig unterschiedliche Signale. Auf der anderen Seite haben wir aber klar eine Mehrheit, die sich für das Impfen entschieden hat. Das muss auch akzeptiert werden.
Denken Sie, dass die Impfung ab 12 Jahren sicher ist?
Das Immunsystem eines 12-jährigen Kindes entspricht dem eines Erwachsenen. Es gibt keine Anhaltspunkte, die gegen eine Impfung ab diesem Alter sprechen würden.
Haben Sie Bedenken bezüglich der neuen Variante aus Südafrika?
Stand heute wissen wir, dass diese neue Variante so viele Veränderungen (Mutationen) am Virusstachel (Spike) aufweist wie noch keine zuvor. Der afrikanische Kontinent ist ein Gebiet mit der geringsten Impfrate und teils völlig fehlender Prävention. Hinzu kommen noch viele andere schwere Infektionskrankheiten. Ja, ich mache mir Sorgen, aber was wir abwarten müssen ist, ob dieser Virus sowohl ansteckender als auch krankmachender oder sogar tödlicher sein wird. Das wird sich sehr schnell zeigen.
Braucht es dann sofort einen neuen «Afrika-Booster»?
Bis jetzt haben die Antikörper nach einer Impfung oder nach einer durchgemachten Erkrankung recht ordentlich vor schweren Krankheitsverläufen bei allen Mutationen geschützt. Ich sehe im Moment keinen Hinweis, dass dies bei der neuen Variante nicht so sein wird. Allerdings werden wir uns wohl an neue Varianten gewöhnen müssen und eventuell auch an den Gedanken, alle 6 bis 12 Monate den Impfstatus aufzufrischen, um auf Nummer sicher zu gehen.
Der Bund verbietet Einreisen aus Risikogebieten, aber die Fluggesellschaften Edelweiss und Swiss fliegen munter weiter nach Südafrika, was sagen Sie dazu?
Nach zwei Jahren Corona-Politik wundert mich vieles nicht mehr. Auch, dass Heimkehrende eventuell mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ans Ziel weiterreisen. Das gäbe es in anderen Ländern eher nicht.
Befürworten Sie die Freigabe von Patenten auf Corona-Impfstoffe und Corona-Medikamente?
Ja, ich denke das wäre ein Schritt in die richtige Richtung und man sollte darüber nachdenken. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, von der Aufhebung des Patentschutzes bis zur Verkürzung desselben. Vor allem sollte man sich überlegen, wie die riesigen Gewinne der Firmen mit diesen Medikamenten besser besteuert und somit wiederum allen Menschen – oder zu mindestens dem lokalen Gesundheitswesen – zugutekommen könnten.
Derzeit wüten Corona und Erkältungen – befürchten Sie zusätzlich eine baldige Grippewelle?
Ich gehe davon aus, dass uns auch das nicht erspart bleiben wird.
Empfehlen Sie die Grippeimpfung?
Ja, auf jeden Fall. Eine Mischung aus einer starken winterlichen Covid und einer Grippewelle wäre der Gnadenstoss für unsere Spitäler.
Glauben Sie, dass unser Gesundheitssystem diesen Belastungen auf Dauer standhalten kann?
Geräte kann man kaufen. Ich mache mir aber bezüglich zwei Dingen aktuell grosse Sorgen: Erstens, ob unsere Pflegenden das noch lange mitmachen können, ohne dass man sich nachhaltig um sie kümmert, und zweitens, ob unsere Gesellschaft diese Belastung, die uns in zwei Lager gespalten hat, auf Dauer schadlos überstehen kann – oder ob Wunden bleiben, die schwer zu heilen sind.
Und abschliessend ein Blick ins Ausland: Nach nur wenigen Monaten nimmt der Impfschutz stark ab. Das würde gemäss Experten bedeuten, dass die rund 1,1 Milliarden zweifach geimpften Chinesen bald schutzlos sind. Wie beurteilen Sie die Lage – ist es möglich, innerhalb weniger Wochen 1,1 Milliarden impfwillige Menschen mit einer dritten Dosis zu boostern?
Soweit man Einblick hat, kompensiert das chinesische System einen langsameren Impffortschritt mit einem drakonischen Test-, Isolations- und Quarantänesystem inklusive der Abriegelung von Städten und ganzen Gebieten. Persönliche Freiheiten werden dem klar untergeordnet.