Dr. med. Astrid Habenstein ist Leitende Ärztin der Privatklinik Wyss AG. Sie erzählt im Interview mit TCS MyMed, was das Borderline-Syndrom ist und wie man als betroffene Person, aber auch als Angehörige mit der Erkrankung umgehen sollte.
Frau Habenstein, vermehrt hört und liest man von psychischen Erkrankungen, und nicht selten fällt der Begriff Borderline-Syndrom. Was versteht man darunter?
Das Borderline-Syndrom ist eine Interaktionsstörung, also eine anhaltende Störung im Umgang mit sich selbst und mit nahestehenden Menschen. Betroffene zeigen über eine längere Zeit Verhaltensweisen, die mit negativen Konsequenzen für sich selbst einhergehen. Auch für das Umfeld kann der Umgang mit den Betroffenen manchmal herausfordernd sein.
Wie zeigt sich diese Erkrankung?
Betroffene leiden unter starken, für sie teils nicht nachvollziehbaren Gefühlen, unter denen sie sich zu impulsiven, das heisst nicht gut überlegten Handlungsweisen hinreissen lassen, die sie im Nachhinein teilweise bereuen. Häufig erleben sie Dissoziationen, das heisst, dass sie auf einen Teil ihrer psychischen Prozesse keinen Zugriff haben. Das kann sich in Form von «innerer Leere» zeigen, bei der die Betroffenen keinen Zugang zu ihren Gefühlen haben, aber auch in Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Episoden, an welche die Betroffenen keine Erinnerung haben.
Gibt es weitere Anzeichen?
Es können starke Anspannungszustände auftreten, welche die Betroffenen unter anderem dadurch zu reduzieren versuchen, dass sie sich selbst verletzen. Die Betroffenen können unsicher sein, was sie als Menschen ausmacht. Viele haben einen geringen Selbstwert und Angst, von ihren Bezugspersonen verlassen zu werden.
Gibt es verschiedene Formen des Borderline-Syndroms?
Es gibt eine mehr oder weniger einheitliche Definition des Borderline-Syndroms, die von der WHO als Krankheit anerkannt ist, aber nicht jeder Betroffene erlebt alle Symptome. So können sich zwei Betroffene in einigen Aspekten wiedererkennen, in anderen die Problematik jedoch sehr unterschiedlich erleben.
Wodurch wird die Krankheit ausgelöst und gibt es Faktoren, welche die Entstehung fördern?
Der wichtigste bekannte Faktor für die Entstehung der Störung sind schwere emotionale oder körperliche Missbrauchs- oder Demütigungserlebnisse in der Kindheit und Jugend. Häufig finden diese in der Herkunftsfamilie statt, es kann jedoch auch z. B. im Rahmen von Mobbing unter Peers in der Schule geschehen.
Wie viele Betroffene gibt es in der Schweiz?
Betroffen sind ungefähr drei Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens, wobei Frauen bisher häufiger Hilfe suchen als Männer.
Wie gefährlich ist die Erkrankung für die Betroffenen und ihr Umfeld?
Die Erkrankung geht mit einer hohen Gefährdung der Betroffenen einher. Fast jeder Zehnte der Betroffenen nimmt sich selbst das Leben. Ein besonders hohes Risiko haben hierbei junge Männer, die sich nicht in Therapie begeben, sowie diejenigen der Betroffenen, die trotz jahrelanger Therapie keine Besserung feststellen. Gefährlich für Betroffene können jedoch auch riskante Verhaltensweisen werden, die dem Spannungsabbau dienen, zum Beispiel selbstverletzendes Verhalten, Substanzkonsum oder ganz einfach eine längerfristig verringerte Selbstfürsorge.
Inwiefern schränkt Borderline die Erkrankten in ihrem Alltag ein?
Betroffene können durch ihre krankheitsbedingte Instabilität Schwierigkeiten in der Integration in Gesellschaftsstrukturen haben, für die Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit sehr wichtig ist. Eine störungsspezifische Therapie, ein auffangendes Netz wie die Spitex, welche die Betroffenen zu Hause besucht, aber auch soziale Versicherungssysteme wie die Invalidenversicherung können Betroffene jedoch soweit unterstützen, dass viele längerfristig wieder auf die Beine kommen.
Wie können oder sollen sich Angehörige verhalten?
Für Angehörige besteht eine Herausforderung darin, die Bedürfnisse der Betroffenen zu erkennen, die diese selbst teils nur schwer äussern können, und gleichzeitig ihre eigenen Bedürfnisse gut zu lesen und zu berücksichtigen. So können sie ein gutes Mass finden, wie weit sie Betroffene unterstützen und zugleich gut mit ihren eigenen Kräften haushalten. Es kann dabei sehr wichtig sein, als Angehörige Betroffene darauf aufmerksam zu machen, dass man sich Sorgen um sie macht und daher einen professionellen Helfer kontaktiert.
Welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen?
Es gibt verschiedene wirksame Psychotherapien, die unterschiedliche Perspektiven der Problematik adressieren. Die bekannteste und am besten untersuchte störungsspezifische Therapie ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), deren Begründerin Marsha Linehan selbst jahrelang an einem Borderline-Syndrom litt. Diese Therapie zielt auf eine Optimierung der Selbstregulationskompetenzen ab, das heisst Betroffene lernen, eine Vielzahl von Strategien im Umgang mit den verschiedenen Symptomen kennen – sie werden zu Experten im Umgang mit schwierigem und schmerzhaftem Erleben. Aber auch andere Psychotherapien zeigen gute Behandlungserfolge, wie die mentalisierungsbasierte Therapie, die darauf abzielt, dass Betroffene ein höheres Verständnis für Gefühle entwickeln, die sie selbst erleben und in anderen auslösen, die Schematherapie, die auf Strategien abzielt, unerfüllte Bedürfnisse aus der Kindheit und im Hier und Jetzt zu erfüllen, oder die übertragungsfokussierte Therapie, in der die Beziehung zwischen Betroffenen und Therapeuten analysiert wird.
Kann das Borderline-Syndrom geheilt werden?
Das Borderline-Syndrom bessert sich über die Zeit zwar auch im Spontanverlauf, doch unbehandelt oder mit unzureichender Therapie erreichen nur äusserst wenige Betroffene ein ausreichendes Funktionsniveau und einen guten Integrationsgrad. Mit einer guten Behandlung sieht dies jedoch anders aus: Fast jeder zweite kann dort mit der Zeit ein gutes Funktionsniveau aufweisen und ist sozial integriert.