Frau lic. phil. Dorothee Schmid, Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und Leiterin Kompetenzbereich Angst- und Zwangsstörungen der Privatklinik Wyss AG, im Interview mit TCS MyMed.
Corona – ein Thema, das uns seit Monaten beschäftigt und jeden von uns betrifft. Welche Veränderung haben Sie im Berufsalltag festgestellt? Ist es zu einer Zunahme der Patienten gekommen?
Man muss unterscheiden: Während der ausserordentlichen Lage ging die Anzahl stationärer Patienten eher zurück. Viele traten erst gar nicht in die Klinik ein, weil sie in diesen unsicheren Zeiten das Vertraute des eigenen Zuhause bevorzugten oder weil sie nicht in eine Klinik eintreten wollten, wo sie keinen Besuch empfangen und kaum Ausgang haben konnten. Jetzt, nach einer gewissen Normalisierung, hat sich die Anzahl der stationären Eintritte auf das gewohnte Niveau gesteigert und es kommt nun in unterschiedlichen Therapien doch öfters vor, dass das Thema «Corona» angesprochen wird.
Vor welche Probleme stellt diese ungewöhnliche Zeit die Menschen?
Da ist zunächst die (durchaus reale) Bedrohung durch ein Virus, das man noch nicht kennt und – das ist die psychologische Seite – an das man sich noch überhaupt nicht gewöhnt hat. Wir haben es also nicht mit einem alten Bekannten (wie etwa dem Grippevirus) zu tun, sondern mit etwas noch schlecht Einschätzbarem. Dadurch kommt es zum Erleben von Kontrollverlust, was unmittelbar in Verunsicherung oder eben in regelrechte Angst mündet.
Wie sieht es betreffend den verordneten Einschränkungen aus?
Diese können natürlich ebenfalls zum Gefühl von Kontrollverlust führen (andere bestimmen, was wir noch dürfen), da diese vor allem auch ganz handfest in unsere täglichen Möglichkeiten und Freiheiten eingreifen. Das führt dazu, dass geplante beziehungsweise wichtige Dinge schlicht nicht stattfinden oder erledigt werden können, was sowohl im realen Leben als auch für die Psyche durchaus ernste Folgen hat. Denken wir nur an all die selbständig Erwerbenden, die ganz konkret daran gehindert wurden oder noch werden, ihr Einkommen zu generieren. Was das zur Folge hat, ist klar: Unter Umständen bricht die finanzielle oder materielle Existenz zusammen und auf der psychologischen Ebene tauchen im wahrsten Sinne des Wortes existentielle Fragen auf (Was soll ich noch? Hat das alles noch einen Sinn? Habe ich überhaupt das Recht zu existieren? etc.).
Hinzu kommt die physische wie auch soziale Distanz – was macht das mit den Menschen?
Die physische und soziale Distanz sind zwei Dinge, die dem Wesen des Menschen in keiner Weise entsprechen und unter Umständen zu ernsten Mangelerscheinungen führen. Ohne soziale und vor allem analoge (auch physische) Kontakte mit anderen Menschen drohen wir im Extremfall zu verkümmern.
Vielfach wurden ältere Menschen (65+) in ihrem Handeln kritisiert und dazu aufgefordert zu Hause zu bleiben. Welche Folgen hat diese Isolation für die Personen?
Je nach individueller psychischer Stabilität können die älteren Menschen unterschiedlich gut mit der Isolation umgehen. Ich weiss von Personen, denen die ganze Tagesstruktur weggebrochen ist und die deswegen in eine richtige Krise gerieten. Andererseits kenne ich auch viele, die mit einer gewissen Gelassenheit reagierten. Sicher ist, dass physische und soziale Distanz nur über eine gewisse Zeit und nur in einem bestimmten Mass ohne gravierende Folgen bleibt.
Gingen sie trotzdem an die frische Luft, wurden sie mit verständnislosen Blicken und Kommentaren konfrontiert. Was löst das in den Betroffenen aus?
Diese Personen haben nicht nur mit den oben erwähnten Folgen der Isolation zu tun, sondern müssen sich zusätzlich noch mit Diskriminierung auseinandersetzen beziehungsweise diese ertragen. Das ist natürlich eine total ungünstige Kombination, denn Diskriminierung bedeutet ja unter anderem, dass jemandem gewisse Rechte einfach abgesprochen werden. Somit müssen sich Betroffene nicht nur isoliert, sondern auch ein Stück weit rechtlos fühlen, was wiederum das Erleben des Abgeschnittenseins verstärkt. Von da ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zu Angst und Depression.
Hinzu kam die Trennung von der Familie und den Enkelkindern. Wie wichtig schätzen Sie den digitalen Fortschritt (Video-Telefonie) in dieser Zeit ein?
Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation bringen sicher ein Stück weit Entlastung, vor allem auch, weil man den anderen nicht nur hören, sondern auch sehen kann. Ein Ersatz für analoges Zusammensein ist das aber nicht, weil man den anderen zum Beispiel nicht berühren kann.
Jedoch zählen nicht nur ältere Menschen zur Risikogruppe, auch viele Junge gehören dazu. Wie differenzieren sich die Ängste der jungen Menschen von denen der älteren Generation?
Während ältere Menschen vermutlich in erster Linie an die Kontakt- und Teilhabemöglichkeiten denken, die sie noch wahrnehmen können, sorgen sich Junge wahrscheinlich eher um die Perspektiven für ihre Zukunft (schulische Bildung, Berufsausbildung etc.). Auch die Einschränkung des sogenannten explorativen Verhaltens, das zur Jugend gehört (die Welt erforschen und ausprobieren), dürfte für junge Menschen belastend sein.
Was raten Sie Personen, welche der Risikogruppe angehören, um die Zeit gut zu überstehen?
In erster Linie sollten diese Personen für ihre Sicherheit sorgen, also alle Massnahmen ergreifen, von denen man bis heute weiss, dass sie vor einer Ansteckung schützen. Anschliessend würde ich zu einer Auslegeordnung der verbliebenen Möglichkeiten raten: Welche Aktivitäten in welchen Situationen sind mit den Sicherheitsmassnahmen noch möglich? Diese sollten dann gepflegt werden.
Auch Menschen, die nicht zur Risikogruppe gehören, kämpfen mit ungewöhnlichen Situationen: Jobverlust, finanzielle Engpässe oder auch Beziehungsprobleme. Konnten Sie eine Veränderung bei dieser Personengruppe feststellen?
Wie bereits zu Beginn gesagt, wird das Thema «Corona» jetzt häufiger und explizit in den Therapien erwähnt. Die Veränderung, die ich feststelle, liegt darin, dass die mit der Pandemie verbundenen Besonderheiten entweder bereits länger bestehende Probleme akut gemacht haben, sozusagen als Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, oder zumindest die Lebenssituation der Betroffenen deutlich erschwert haben.
Wann sollte man sich professionelle Hilfe holen?
Wenn man merkt, dass einem das Wasser bis zum Hals steigt und man mit den gewohnten Strategien nicht mehr zurechtkommt.