Dr. med. Iglika Hübenthal ist ärztliche Leiterin der Ernährungsmedizin beim Adipositaszentrum Limmattal – dem vom Bundesamt für Gesundheit anerkannten Referenzspital für die operative Behandlung von Übergewicht. Im Interview mit TCS MyMed sagt sie, warum man das Thema Adipositas nicht verharmlosen darf.
Frau Dr. Hübenthal, am 4. März findet der Welt-Adipositas-Tag statt. Ist Adipositas denn wirklich so ein wichtiges Thema?
Adipositas wird als das krankhafte Übergewicht (BMI > 30kg/m2) bezeichnet und ist aktuell eines der wichtigsten medizinischen Themen. Wir sprechen bereits von DER Epidemie des 21. Jahrhunderts, wenn man bedenkt, dass jedes Jahr 2,6 Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht und Adipositas sterben.
Immer mehr Kinder und Jugendliche kämpfen mit Übergewicht. Laut Statistik sind in der Schweiz etwa 20 Prozent der Kinder übergewichtig und 5 Prozent adipös. Worauf ist diese Übergewichtsepidemie zurückzuführen?
Ja, die aktuellen Zahlen sehen laut WHO-Statistik genauso aus. 21,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz sind übergewichtig (BMI > 25kg/m2) und 5,8 Prozent adipös (BMI > 30kg/m2). Weltweit sind bereits 340 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 5 und 19 Jahren übergewichtig oder adipös, und davon sind 41 Millionen Kinder unter 5 Jahren. Die Adipositas-Epidemie ist multifaktoriell bedingt.
Wie kommt das?
Die inadäquate Ernährung der Mutter während der Schwangerschaft sowie die falsche Ernährung im Kleinkindalter, sprich die Nährstoffversorgung während wichtigen Entwicklungsphasen, können eine permanente Auswirkung auf die persönliche Prädisposition für Adipositas und metabolische Erkrankungen haben. Somit legt man den Grundstein für das spätere Gewicht der Kinder und Jugendlichen. Wir sprechen von der metabolischen Programmierung – ein Bereich, der aktuell sehr intensiv erforscht wird. Die inadäquate Ernährung zu Beginn des Lebens der Kinder wird, sobald die Kinder älter sind, von einer hochkalorischen, fettreichen und zuckerreichen Ernährung mit einem niedrigen Vitamin- und Mineralstoffgehalt abgelöst. Das führt bereits im Kleinkindalter zu einer ausgeprägten Adipositas.
Welche Faktoren spielen neben der metabolischen Programmierung und des späteren Essverhaltens bei der Entstehung von Übergewicht eine wichtige Rolle?
Die fehlende körperliche Aktivität spielt eine ausgeprägte Rolle. Des Weiteren kommen polygenetische Ursachen hinzu. Formal genetische Studien belegen eine hohe Erblichkeit der Varianz des Körpergewichtes (40 bis 85 Prozent). Das heisst, dass Adipositas bei Menschen nur äusserst selten (2 bis 6 Prozent) durch Mutationen in einem einzigen Gen verursacht wird. Viel häufiger ist die genetische Variabilität in mehreren Genen relevant. Somit ist genetisch festgelegt, ob ein Kind dazu in der Lage ist, die zugeführten Nährstoffe zu speichern und Reserven aufzubauen. Daneben gibt es natürlich die «guten Verwerter», die sehr viel essen können und keinerlei Gewichtszunahme erfahren – dies ist auch genetisch determiniert. Somit kann man sagen, dass die Entwicklung der Adipositas im Kindesalter multifaktoriell bedingt ist, jedoch in erster Linie auf die falsche Ernährung und die mangelnde Bewegung zurückzuführen ist.
Ab wann sprechen wir von Adipositas?
Bei Erwachsenen ab einem BMI über 30 kg/m². Der Bodymassindex zur Abschätzung des Körperfettanteils kann eigentlich ab dem zweiten Lebensjahr angewendet werden, ist jedoch sehr ungenau, da die Körperfettverteilung im Kindesalter alters- und geschlechtsspezifisch ist. Somit können individuelle BMI-Werte nur anhand von populationsspezifischen Referenzwerten für das Kindes- und Jugendalter in Form von alters- und geschlechtsspezifischen BMI-Perzentilen eingeschätzt werden. Bei Kindern und Jugendlichen sprechen wir von einer Adipositas bei einem BMI über der 95. Alters- und Geschlechtsperzentile.
Warum werden Kinder bereits in jungen Jahren übergewichtig?
Es spielen sehr viele Faktoren eine Rolle, warum beispielsweise ein Zehnjähriger übergewichtig wird. Es beginnt bereits mit der metabolischen Programmierung im Mutterleib und im Kleinkindalter. Daneben spielen Umweltbedingungen, wie häufige antibiotische Behandlungen in den ersten Lebensjahren (das Mikrobiom wird stark beeinflusst), Bisphenol A in Nahrungsmitteln sowie eine mögliche Infektion mit einem Adenovirus 36 eine untergeordnete Rolle. Ebenfalls sind die monogene Adipositas oder neuroendokrine Störungen, die mit Adipositas assoziiert sind, sehr selten. In erster Linie spielen die genetische Prädisposition und die Nahrungsmittel, die einem Kind zur Verfügung gestellt werden, sowie die fehlende körperliche Aktivität die grösste Rolle bei der Entstehung der Adipositas im Kindesalter.
Was sind die Folgen des Übergewichts?
Übergewicht oder Adipositas im Kindesalter birgt das Risiko, dass die jungen Menschen auch im Erwachsenenalter krankhaft übergewichtig bleiben und bereits in jungen Jahren Komorbiditäten wie Diabetes mellitus Typ 2, kardiovaskuläre Erkrankungen, muskuloskelettale Beschwerden und sogar ein erhöhtes Risiko für Karzinome entwickeln können.
Was raten Sie den Eltern?
Die Kinder können nicht bestimmen, in welchen Verhältnissen sie aufwachsen und welche Lebensmittel ihnen zur Verfügung gestellt werden, sodass sozioökonomische Strukturen eine sehr grosse Rolle spielen. Ein sehr wichtiger Therapieansatz bei der Prävention von Übergewicht und Adipositas im Kindesalter liegt in der familiären Evaluation der Situation – in welchen wirtschaftlichen Verhältnissen das Kind aufwächst, welche Lebensmittel familiär bevorzugt werden und wie die Freizeitgestaltung aussieht bezüglich der körperlichen Aktivität. Sehr wichtige Faktoren, die nur mit den Eltern besprochen und evaluiert werden können. In erster Linie rate ich den Eltern, dass sie sich rechtzeitig an den Kinderarzt wenden, sobald sie das Gefühl haben, dass ihr Kind übergewichtig ist.
Wie wird Adipositas bei Kindern und Jugendlichen behandelt?
An erster Stelle stehen die präventiven Massnahmen, die einer weiteren Ausbreitung der Adipositas-Epidemie im Kindesalter entgegenwirken sollen. Dazu gehören keine Diäten, sondern eine individuelle Anpassung der Energiezufuhr und des Energieverbrauchs, was einfach eingehalten werden kann, ohne dass die Kinder Hunger verspüren müssen. Basismassnahmen sind: Der Konsum von Gemüse und Früchten sowie Hülsenfrüchten, Nüssen und Vollkornprodukten sollte erhöht werden. Reduktion der Fettzufuhr und eine deutlich erhöhte Zufuhr von mehrfach ungesättigten Fettsäuren im Vergleich zu gesättigten Fettsäuren. Reduktion des Zuckerkonsums. Durchführung einer an die körperliche Entwicklung angemessenen sportlichen Aktivität von mindestens 60 Minuten am Tag.
Wird die Therapie grundsätzlich ambulant oder auch stationär durchgeführt?
In erster Linie erfolgt die Therapie ambulant. Die KV-Leistungsverordnung ermöglicht in der Schweiz seit dem Jahr 2014, Kinder mit Übergewicht und einer Begleiterkrankung oder Adipositas umfassend zu betreuen. Neben den regelmässigen Konsultationen beim Kinder- oder Hausarzt können Ernährungsberatung und Physiotherapie verordnet werden. Eine multiprofessionelle, strukturierte Individualtherapie (MSIT) ist eine Weiterführung bzw. Intensivierung der Behandlung des Kinder- oder Hausarztes. Sie wird von anerkannten, für Kinder-Adipositas spezialisierten Ärzten angeboten und mit Ernährungsberatung, Physiotherapie und Psychotherapie / Psychologie ergänzt. Des Weiteren besteht auch die Möglichkeit zur Durchführung eines multiprofessionellen Gruppenprogrammes (MGP). Ein solches Programm läuft zum Beispiel in Zürich unter dem Namen «club minu».
Was beinhaltet das multiprofessionelle Gruppenprogramm?
Die Gruppenprogramme werden von qualifizierten Fachpersonen aus den Bereichen Bewegung, Ernährung, Medizin und Psychologie / Verhalten geleitet. Jedes Programm umfasst eine Intensivphase von mindestens sechs Monaten und eine Nachbetreuungsphase von bis zu zwei Jahren. In der Intensivphase finden regelmässige Treffen für die Kinder und Jugendlichen und die Eltern oder Bezugspersonen statt.
Und wer trägt die Kosten dafür?
Die Kosten eines Gruppenprogramms werden von den Krankenkassen übernommen. Wenn die konservativen Therapiemöglichkeiten erfolglos ausgeschöpft sind und die Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren einen BMI > 35 kg/m² und Anzeichen von mindestens einer schweren Komorbidität aufweisen, kann eine Indikationsprüfung für eine bariatrische Operation an einem SMOB-anerkannten bariatrischen Referenzzentrum vorgenommen werden. Eine operative Therapie muss strikt nach den vorbestehenden SMOB-Richtlinien vorbereitet und durchgeführt werden und bleibt nur wenigen Jugendlichen vorbehalten. Abschliessend bleibt wirklich nur noch zu sagen, dass es eine gesellschaftliche Aufgabe ist, die Prävention der Adipositas im Kindesalter zu unterstützen.
Dr. Hübenthal ist eine breit ausgebildete Fachärztin für Innere Medizin.
Schon früh hat sie sich auf die Therapie des Übergewichts und der Adipositas spezialisiert. Sie absolvierte ihre Ausbildung an zahlreichen Schweizer Kliniken, die sich auf die Behandlung des Übergewichts spezialisiert haben. Sie ist eine der wenigen Internistinnen in der Schweiz, die nur den in Deutschland erhältlichen Titel als Ernährungsmedizinerin führen dürfen. Ihr Spezialgebiet ist die Abklärung der Patienten vor einem operativen Eingriff auf deren Eignung hierfür und die Behandlung komplexer Protein- oder Vitaminmangelzustände bei Patienten nach chirurgischen Eingriffen. Ein weiteres Spezialgebiet ist die Begleitung und Überwachung schwangerer Patientinnen, bei denen ein bariatrischer Eingriff in der Vergangenheit vorgenommen wurde. Mehr Infos: https://adipositaszentrum-limmattal.ch/