Reinhold Messner, kann Ihnen das Coronavirus überhaupt gefährlich werden?

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Quelle: TCS MyMed

Extrembergsteiger, Abenteurer, Buchautor und Politiker Reinhold Messner stand als erster Mensch auf den Gipfeln aller vierzehn Achttausender – jeweils ohne Flaschensauerstoff. Ebenfalls als Erster hat er einen Achttausender im Alleingang bestiegen (Nanga Parbat 1978) und war zwei Jahre später der Erste, der den höchsten Gipfel der Welt ohne Flaschensauerstoff und im Alleingang erreichte. Zudem war Messner der Zweite, der 1986 die Seven Summits erreichte. Weiterhin durchquerte er die Antarktis, Grönland und die Wüste Gobi. Reinhold Messner im Exklusiv-Interview mit TCS MyMed, der medizinischen Plattform des TCS.

Herr Messner, Sie sind zu Fuss durch die Antarktis gegangen, haben die Wüste Gobi durchquert und als erster Mensch alle vierzehn Achttausender dieser Erde bestiegen. Jetzt sollten Sie Ihre Wohnung in München bestenfalls nicht verlassen und sich an die Schutzmassnahmen der Regierung halten. Hatten Sie diese Pandemie kommen sehen?
Nein, was jetzt über die Menschheit eingebrochen ist, versuchten wir auf lange Sicht auszublenden. Dieses Mal sind nicht ein paar Staaten betroffen, sondern die ganze Welt. Bekanntlich gab es einige Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens, die eine Pandemie dieser Grössenordnung vorausgesagt hatten. Wenn man den Ausbruch des Coronavirus mit dem Geschehen unserer jüngeren Weltgeschichte vergleicht, ist die aktuelle Situation durchaus greifbar, allerdings scheint dieses neuartige Coronavirus derart komplex zu sein, dass auch die Wissenschaftler, die heute sicherlich über viel mehr Wissen verfügen als vor 100 Jahren, immer noch daran tüfteln, was wirklich das grosse Problem an diesem Virus ist.

In Tirol betreiben Sie einen Selbstversorgerbauernhof auf 2000 Metern Höhe, warum sind Sie jetzt nicht dort in der Natur?
In der Tat gehöre ich eigentlich dorthin und theoretisch hätte ich nach Südtirol reisen können, aber meine Partnerin stammt aus Luxemburg und sie darf nicht nach Italien einreisen. Natürlich lasse ich sie nicht allein in München zurück, nachdem wir gerade in Afrika waren zum Bergsteigen und fürs Studium der dortigen Bergvölker. Ich ertrage die Isolation unter anderem mit möglichst grosser Gelassenheit, obwohl ich ganz gerne auf meinen Bauernhöfen wäre, weil ich dort mehr Auslauf geniesse und besser arbeiten könnte, aber ich fülle meine Zeit auch hier in München richtig aus.

Sie sind ein ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments. Wie beurteilen Sie die aktuellen Virus-Eindämmungsmassnahmen der Weltpolitik?
Während Italiens Provinzen bestimmte Verantwortlichkeiten zugesprochen bekommen und regen Gebrauch davon machen, um bestimmte Lockerungen auszusprechen, streitet man sich in Bayern derzeit gewaltig, welches Bundesland die besseren Konzepte hervorbringt. Das ist grösstenteils ein politisches Geplänkel, um sich als Krisenmanager zu beweisen, wobei es primär um die nächsten Wahlen geht. Ich fände es besser, wenn in Deutschland überall die gleichen Regeln gelten würden. Insbesondere bezüglich Schul- und Restaurantöffnungen und so weiter. Das Problem der USA, wo die Leute auf die Strasse gehen und sich die Regellockerungen erstreiten wollen, ist ein Beweis dafür, dass die bisherigen Regelungen der EU richtig waren. In der jetzigen Phase tragen die Politiker die Verantwortung, ein Abklingen der Pandemie herbeizuführen und gleichzeitig das Land wieder aufzumachen. Die wirtschaftlichen Folgeschäden werden wir nicht in einem Jahr behoben haben. Deshalb bin ich mir sicher, dass in Europa Millionen von Unternehmen bankrottgehen werden und ihre Geschäftstätigkeit beenden müssen.

Aufgrund von weltweiten Reisebeschränkungen gibt es zurzeit auch am Mount Everest kein Bergsteiger-Verkehr, das dürfte Sie freuen?
Das Höhenbergsteigen entwickelt sich unbestrittenermassen zum konsumierbaren Tourismus. Beispielsweise wird am Everest seit geraumer Zeit von unten bis nach oben eine Piste gebaut, die später einmal dem zahlenden Publikum als Abenteuerpassage verkauft wird. So schafft man es auch als Laie bis zum Gipfel, natürlich mit zahlreichen Sauerstoffdepots, vorinstallierten Seilen, Leitern und Brücken sowie Ärzten und Köchen in den Lagern. Schade nur, dass man sich dann irgendwann beim Aufstieg im Weg steht und der traditionelle Alpinismus in den Hintergrund rückt, denn der wahre Alpinist geht dorthin, wo keine Infrastruktur ist, wo er sich mit dem Nichts auseinandersetzen muss.

Was unternehmen Sie gegen diese Entwicklung?
Im Laufe der letzten fünf Monate habe ich die Entscheidung getroffen, den traditionellen Alpinismus noch einmal von Grund auf zu erzählen. Obwohl ich bereits mehrere Museen zu verschiedenen Themen des Bergsteigens eröffnet habe, möchte ich jetzt in den wichtigsten Gebirgsregionen der Erde kleinere Strukturen schaffen, wo wir erzählen, was der traditionelle Alpinismus war und heute noch sein kann.

Ihr Aufsatz «Mord am Unmöglichen», den Sie als junger Kerl schrieben, ist einer der Schlüsselaufsätze des Alpinismus. Darin schreiben Sie über die Wirkung moderner Technologien und Hilfsmittel, mit welchen die Probleme am Berg zunehmend gelöst werden und somit den Alpinismus begraben. Wo stehen wir heute?
Der Alpinismus wird immer mehr zum modernen Sport und ist ab 2021 sogar eine Disziplin bei den Olympischen Spielen. Nur wird man bei den Spielen nicht die ungeahnten Höhen unserer Erdlandschaft erklimmen, sondern eine künstliche Wand mit Plastikgriffen hochklettern. Ich habe den traditionellen Alpinismus mit all seinen Facetten betrieben und plädiere dafür, dass es möglich bleibt, in Eigenverantwortung ein Gebirge zu erkunden und dabei zu realisieren, wie grossartig unsere Natur ist. Denn unsere Berge sind einfach nur fantastisch gebaut und ein Bergsteiger sollte die Angst zu spüren bekommen, wenn er sich in den Weiten der Natur verliert oder wenn er vielleicht nicht rechtzeitig zurückkommt, genauso wie er die Lebensfreude erfahren darf, wenn er in dieser kargen Welt unterwegs ist. Das Coronavirus ist auch ein Beweis dafür, dass wir Menschen die Natur nicht respektieren. Die Natur ist alle Tage neu, alle Tage anders, kreativ. Und dieses Virus gehört zur Natur. Und wir brauchen keine Aliens und kein Star Wars, um unterzugehen. Es reicht ein Etwas, das wir nicht einmal mit freien Augen sehen können, um die Menschheit auszulöschen.

Zurück zum Everest. Ihre Leistung veränderte nicht nur den Alpinismus, sondern auch das Wissen über die Grenzen der menschlichen Physiologie, denn vor dem 8. Mai 1978 galt die Besteigung des Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff gemäss Medizinern als unmöglich. Wie hat Ihr Triumpf Ihre Ansicht gegenüber der Medizin verändert?
Diese Geschichte wird meines Erachtens etwas überschätzt, denn bereits im Jahr 1922 unternahmen die Engländer erste Aufstiegsversuche am Everest. Dazu entsandten sie zwei Gruppen, wovon die eine ohne Sauerstoffmasken hochstieg. Das Fazit lautete, dass es zwar keiner Gruppe gelungen war, den Gipfel erfolgreich zu erklimmen, die Gruppe mit Sauerstoffmasken aber schneller war. Und damit setzten alle Expeditionen von 1922 bis 1978 auf den Einsatz von Sauerstoffmasken am Everest. Die Physiologen hatten inzwischen geschätzt, dass es im Notfall bis auf 8500 Meter ohne künstliche Sauerstoffzufuhr gutgehen würde, bevor ich es 1978 ganz ohne Maske versuchen wollte. Dies sorgte natürlich für viel Aufmerksamkeit in den Medien, doch unter dem Strich lagen die Wissenschaftler mit ihren Schätzungen nicht falsch. Tatsächlich waren die prognostizierten 8500 Meter sehr nahe an der Grenze des Möglichen. Allerdings brachte ich bereits damals sehr viel Erfahrung mit, hatte von allen am meisten Achttausender bestiegen und konnte relativ gut abschätzen, wann jeweils der richtige Zeitpunkt war zur Umkehr oder zur Fortsetzung des Aufstiegs ohne künstliche Sauerstoffzufuhr.

Beim legendären Abstieg am Nanga Parbat im Jahr 1970, bei dem Ihr Bruder starb, konnten Sie während circa 20 Stunden nichts trinken. Und das bei höchster Anstrengung auf 8000 Metern Höhe bei einer Temperatur von minus 30 Grad Celsius. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft waren Sie theoretisch bereits verdurstet. Kann Ihnen das Coronavirus überhaupt gefährlich werden?
Wenn ich angesteckt werde, bin ich ganz gleich krank wie alle anderen. Ich bemühe mich, nicht angesteckt zu werden. Mit Angst hat das nichts zu tun, ich bemühe mich einfach. Soweit dies möglich ist, halte ich mich auch an die Abstandsregeln, wenn ich in die Stadt gehe.

Kennt Reinhold Messner Angst?
Ich habe das grosse Glück, dass ich ergänzend zum Bergsteigen viel schreibe. Auf diese Weise verarbeite ich einen Grossteil meiner Erfahrungen. Das tragische Ereignis, bei dem mein Bruder am Nanga Parbat starb, musste ich während 50 Jahren verdauen. Erst neulich ist meine endgültige Aufarbeitung dieser Erfahrung erschienen: «Mein Schlüsselberg Nanga Parbat» erzählt meine schlimmste Geschichte, die zugleich auch die wichtigste meines Lebens ist, weil ich dort das erste Mal nicht nur dem Tod nahe gewesen war, sondern Sterbenserlebnisse hatte. Natürlich bleibt mein Bruder in meiner Erinnerung lebendig und er ist immer noch in seinem damaligen jugendlichen Alter bei mir, nach den zahlreichen Erfahrungen, die wir an den Bergwänden gemeinsam sammelten.

Wie blicken Sie auf Ihr Lebenswerk zurück und was möchten Sie noch erleben?
Ich bin 75 Jahre alt, mein Motor läuft und von einem gelegentlichen Nickerchen am Nachmittag sehe ich grundsätzlich ab. Das heisst, ich bin gesund und habe entgegen den Prognosen einiger Ärzte auch keine grösseren neurologischen Schäden, obwohl ich mich oft dem Sauerstoffmangel aussetzte. Generell denke ich, dass das Zurückschauen auf ein gelungenes Leben nichts bringt. Mir geht es darum, dass ich Ideen, die ich jetzt noch habe, umsetzen kann. Und während ich das tue, entsteht gelingendes Leben. Es geht darum, dass man eine Chance hat, seine Ideen zu verwirklichen und die Ideen passe ich eben meinem Alter an, aber so wie ich 20 Jahre brauchte, meine Museen auf die Beine zu stellen, werde ich vielleicht weitere fünf Jahre brauchen, um die Geschichte des traditionellen Alpinismus auf der ganzen Welt zu erzählen.

Verwenden Sie diese Informationen nicht als alleinige Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen. Fragen Sie bei gesundheitlichen Beschwerden Ihren Arzt oder Apotheker. Surfen im Internet ersetzt den Arztbesuch nicht.

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