Dr. med. Franz Schmidlin ist spezialisiert in Urologie, im Interview mit TCS MyMed zeigt er erschreckende Einblicke in seine Arbeit während der Corona-Krise.
Herr Schmidlin, was stellt für Sie während der Corona-Krise eine besondere Herausforderung dar?
Das grosse Problem und meine Sorge sind, dass die Leute sehr Angst haben ins Spital oder in die Praxis zu kommen und dies verheerende Folgen haben kann. Um ein Beispiel zu geben: Ein junger Mann blieb mit starken Hodenschmerzen einfach zu Hause. Wäre er innerhalb von 4 Stunden gekommen, hätten wir seine Hodentorsion, das ist eine akute Stieldrehung von Hoden und Nebenhoden mit Unterbrechung der Blutzirkulation und hämorrhagischer Infarzierung, routinemässig operieren können. Weil er viel zu spät kam, mussten wir leider seinen Hoden amputieren.
Gibt es noch mehr solche Fälle?
Viele Patienten mit onkologischen Kontrollen erscheinen aus Angst vor dem Coronavirus nicht mehr und verschieben die Termine. Das wird zum echten Management-Problem, da wir diese Patienten nicht aus den Augen verlieren dürfen. Und wenn dann im Mai alles wieder losgeht, wollen alle auf einmal kommen und wir können dann wohl nicht mehr zeitgerecht alle Anfragen beantworten.
Ist die Angst sich im Spital mit dem Coronavirus anzustecken denn nicht reell?
Ich möchte betonen: Das Risiko, sich in unserem professionellen Umfeld, wo die Mitarbeiter grosses Know-how haben, mit dem Coronavirus anzustecken, ist vernachlässigbar. Dasselbe gilt für den Hausarztbesuch. Eher steckt man sich beim Einkaufen im Laden oder bei Freunden an.
Viele urologische Eingriffe können problemlos und mit ausreichender Sicherheit ambulant, also ohne stationären Aufenthalt, vorgenommen werden.
Ich habe in den USA gearbeitet und schon dort war ich der Meinung, dass der Trend zu mehr ambulanten Eingriffen kritisch zu beurteilen ist. Ein Beispiel: Schickt man einen Patienten am selben Tag mit einem Urin-Katheter nach Hause, so sind vor allem ältere Personen überfordert und es kann für ihn im unprofessionellen Umfeld zu vielen Problemen kommen. Wenn dann seine Frau oder die Tochter den Urinsack wechseln müssen, ist die Infektionsgefahr vor allem in der akuten Covid-19-Situation höher als stationär im Spital.
Aber ambulante Eingriffe sind doch viel günstiger?
Wir müssen die Diskussion der ambulanten Chirurgie differenzierter als bisher führen. Die grosse Lehre aus dieser Krise ist für mich, dass das Abbrechen der Infrastrukturen und hin zu mehr ambulanten Eingriffen Gefahren mit sich bringt und vor allem aus Kostengründen propagiert wurde. Das ist Unsinn, wir müssen wieder vermehrt auch an die medizinische Logistik denken und nicht am falschen Ort sparen, denn was uns jetzt rettet, sind vor allem unsere guten Infrastrukturen. Andere Länder müssen Turnhallen in Spitäler umfunktionieren, wir haben noch genügend Betten und eben eine gut funktionierende Infrastruktur. Will man diese vermehrt abbauen, also weniger stationär und mehr ambulant machen, so wird es dann im Ernstfall unmöglich sein, alles schnell wieder hochzufahren. Diese Pandemie ist ein Weckruf, es kommen garantiert neue Pandemien und es gilt zu hoffen, dass dann die Sterblichkeitsrate nicht dreimal so hoch sein wird. Wir müssen vorbereitet sein.
Wie kommt in dieser Zeit die Telemedizin zum Einsatz?
Telemedizin ist etwas sehr Gutes, doch in der Urologie nicht interessant. Bei uns sind sehr viele ältere Menschen betroffen und die sind oft nicht für solche Möglichkeiten ausgerüstet. Und der Bedarf war nie wirklich da, gerade für Patienten über 60 Jahre ist der persönliche Kontakt sehr wichtig.
Wann soll Ihrer Meinung nach wieder Normalität einkehren?
Es war richtig alles zu stoppen, denn wir haben alle die Situation unterschätzt und wurden überrollt. Es fehlen Masken, Desinfektionsmittel, Schutzkleidung und Medikamente. Der Bund muss diese Problematik genau analysieren; da wurde in den letzten Jahren einiges vernachlässigt! Zum Glück haben wir gute Infrastrukturen, die nicht an den Anschlag gekommen sind. Jetzt, wo wir diese und viele neue Erkenntnisse haben, können wir die Situation neu analysieren, anpassen und vermehrt lokal entscheiden, wo und wie was gelockert werden soll. Es muss wieder weitergehen und man muss aus dieser Krise nun die richtigen Lehren ziehen. Es gibt aber auch Positives zu berichten. Der Einsatz des gesamten Spitalpersonals war beispielhaft und von Solidarität gezeichnet. Das ist eine tolle Erfahrung.
Hirslanden Healthline
Die Hirslanden-Gruppe stellt eine telefonische Patienten-Helpline unter der Telefonnummer 0848 333 999 zur Verfügung, an die sich alle Patientinnen und Patienten rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche wenden können, wenn sie Fragen haben oder medizinische Hilfe benötigen.