Querschnittlähmung: Wenn sich das Leben ändert



Krankheiten

Quelle: TCS MyMed


Dr. med. Michael Baumberger, Chefarzt Paraplegiologie und Rehabilitationsmedizin am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, zum Thema Querschnittlähmung.

Herr Dr. Baumberger, was versteht man unter dem Begriff Querschnittlähmung?
Der Begriff Querschnittlähmung definiert eine Lähmung, welche durch eine Schädigung des Rückenmarks auftritt. Man unterscheidet hier die Para- und die Tetraplegie. Bei der Paraplegie sind die unteren Extremitäten betroffen. Spricht man von Tetraplegie, handelt es sich um eine Lähmung aller vier Gliedmassen.

Gibt es verschiedene Formen der Querschnittlähmung?
Ja, es gibt altersgruppenspezifische Formen der Querschnittlähmung, beispielsweise die pränatale Form, die Spina bifida, oder Enger Spinalkanal (Spinale Stenose) bei älteren Leuten. Dazu kommen Lähmungen, welche bei der Geburt durch sogenannte Geburtstraumen auftreten. Diese sieht man in der Schweiz sehr selten, in anderen Ländern aber häufiger. Weitere Formen sind die unfall- und die krankheitsbedingten Lähmungen.

Welches sind die häufigsten Ursachen?
Hier kommt es stark auf das Land an, in dem man lebt. Die häufigsten Ursachen in der Schweiz sind Sportverletzungen, beispielsweise durch einen Sturz, und Verkehrsunfälle. In Ländern mit anderen kulturellen Aspekten oder auch anderen Gegebenheiten ändern sich die Hauptursachen komplett. Schauen wir uns zum Beispiel die USA an, wird ein wichtiger Anteil der unfallbedingten Querschnittlähmungen durch Gewalteinwirkungen ausgelöst.

Wie wird die Rehabilitation einer betroffenen Person aufgebaut?
Die Rehabilitation beginnt bereits am Unfallort. Bei der Bergung des Patienten ist es extrem wichtig, dass nicht ein zusätzlicher Schaden entsteht. Weiter ist zum Beispiel auch ein gutes Blutdruckmanagement essenziell. Im Allgemeinen lässt sich die Reha anschliessend in vier Phasen unterteilen:

  • Die Akutphase: Das ist die Zeit der Erstbehandlung, nachdem die Lähmung eingetreten ist. Hier wird die Basis für die weitere Rehabilitation geschaffen. Dazu gehören die richtige Diagnosestellung, die Behandlung der Verletzungen, die Stabilisierung der lebenswichtigen Funktionen sowie die Sicherstellung der Blasen- und Darmentleerung.
  • Die Aufbauphase: Die Betroffenen lernen den Umgang mit dem gelähmten Körper und werden langsam mobiler und selbstständiger. Hier beginnen die ersten Vorbereitungen für den Austritt und die Wiedereingliederung ins soziale und berufliche Umfeld.
  • Die Konsolidierungsphase: Die Betroffenen übernehmen, im Hinblick auf den Austritt, Eigenverantwortung und werden bei Problemen oder Komplikationen von einem Rehabilitationsteam unterstützt.
  • Die Austrittsphase: Letzte Vorbereitungen für den Austritt werden getroffen, und die stationäre Behandlung geht langsam zu Ende. Die Patienten verfügen nun über die Fähigkeiten, ein ihrer Lähmung entsprechendes, selbstständiges Leben zu führen. Die Nachsorge wie auch ambulante Therapien sind aufgegleist.


Welche Erfolge können mit einer individuellen Reha erreicht werden?
Das ist sehr unterschiedlich, da jeder Mensch mit einer Querschnittlähmung ein anderes Verletzungsmuster aufweist. Es muss geschaut werden, welche Muskeln und Funktionen noch vorhanden sind, welche Sensibilität gestört ist, wie die einzelnen Organe funktionieren, und anhand der Entwicklung der Läsion müssen wir uns laufend anpassen. Dies geschieht in einem Team, welches nicht nur aus Ärzten, sondern auch Ergotherapeuten, Logopäden, Physiotherapeuten, Pflegenden und vielen weiteren Spezialisten besteht. Die Resultate hängen zusätzlich von der Höhe der Lähmung ab, und dementsprechend werden auch andere Ziele verfolgt. Ist ein Patient beispielsweise durch die Lähmung auf eine Beatmungsmaschine angewiesen, ist das Ziel klar auch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, aber es bedarf ganz anderer Massnahmen, als wenn die Lähmung tiefer unten ist. Je tiefer die Lähmung ist, umso einfacher gestaltet sich die Inklusion in den Alltag.

Oft ist nicht nur die neue körperliche Situation eine Belastung für die Betroffenen, sondern auch die psychische. Wie geht man richtig damit um?
Die psychische Komponente ist extrem wichtig und wird vom ersten Moment an berücksichtigt und angegangen. Die Betroffenen machen auf ihrem Weg ganz viele verschiedene Phasen durch – Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Trauer und das Damit-Leben. Auf Medikamente, welche die Psyche beeinflussen, wird beim grossen Teil unserer Patienten verzichtet; stattdessen wird durch den Einsatz von Psychologen und Psychologinnen die nötige Unterstützung bereitgestellt.

Wie wichtig ist die Akzeptanz dieser Gefühle für die Genesung?
Wichtig ist, dass sich die Patienten ihren Gefühlen stellen und diese auch zulassen. Ohne diesen Verarbeitungsprozess wird es schwierig, die neuen Herausforderungen, die auf die Betroffenen warten, anzugehen. Häufig treten bei unseren Patienten neuropathische Schmerzen, Schmerzen ohne identifizierbaren Ursprung, auf. Auch hier ist die psychologische Unterstützung im Lernprozess, wie man damit umgeht, essenziell.

Welche Hürden gilt es im Alltag zu bewältigen?
Die Hürden im Alltag sind sehr unterschiedlich. Was sicherlich dazu gehört, ist die Angst vor einer Konfrontation mit etwas Neuem: Wie reagiert die Familie? Wie reagieren Freunde und Bekannte und auch Fremde auf meine Situation? Weiter kommt die Einsicht in die Realität, in der man erkennt, dass die Umgebung nicht in erster Linie für Rollstuhlfahrer gestaltet wurde. Dazu gehören architektonische Hindernisse, Probleme in den öffentlichen Verkehrsmitteln und Toiletten, die Einrichtungen in Restaurants oder allgemein das soziale Leben, welches nicht für Rollstuhlfahrer ausgerichtet ist. In Städten, die vor Jahrhunderten erbaut wurden, kommen mehr architektonische Hindernisse dazu.

Wie sieht es bei der Reiseplanung aus – wie verändert sich diese für die Betroffenen?
Die Reiseplanung ändert sich insofern, als die Wahl des Transportmittels so gefällt werden muss, dass es rollstuhltauglich ist oder eine Begleitperson zur Verfügung steht. Reisende, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, müssen sich im Vorfeld bewusst sein, dass es zu Komplikationen, Verzögerungen oder anderen unerwarteten Situationen kommen kann und sie eine gewisse Bereitschaft für das Unvorhergesehene haben müssen. Bei Paraplegikern kommt es, im Gegensatz zu Tetraplegikern, häufiger vor, dass sie alleine reisen.

Welche Unterstützungen gibt es für Reisende mit einer Querschnittlähmung?
Zur Unterstützung gibt es die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV), welche Betroffenen bei der Reiseplanung, der Organisation von Transportmitteln und deren Buchung wie auch – wenn notwendig – auf der Reise zur Seite steht. Zusätzlich gibt es weltweit Organisationen, welche sich auf das Thema Reisen mit Rollstuhl oder allgemein Reisen mit Behinderung spezialisiert haben.

Was gilt es bei den Transportmitteln speziell zu beachten?
Wählt man als Transportmittel das Flugzeug, muss man sich im Vorfeld mit der Fluggesellschaft in Verbindung setzen und ein Formular (MEDIF) ausfüllen. Das ausgefüllte Formular wird anschliessend dem behandelnden Arzt zur Ergänzung weitergeleitet. Es müssen Angaben zu den Bedürfnissen sowie zu den benötigten Hilfsmitteln gemacht werden. Wichtig ist auch, dass bei Flügen der Rollstuhl abgegeben werden muss und von der Fluggesellschaft ein anderer zur Verfügung gestellt wird. Betroffene müssen also zwingend ihr Sitzkissen und notwendige Hilfsmittel (z. B. Material für Katheter) bei sich tragen.

Wie sieht es bei einer Kreuzfahrt aus?
Entscheidet man sich für eine Kreuzfahrt, kommen zahlreiche weitere Aspekte hinzu: Ist das Schiff rollstuhltauglich? Sind die Türen und Lifte breit genug? Wie hoch sind die Bodenschwellen? Es lohnt sich immer, sich im Voraus genau über die Gegebenheiten zu informieren.

Und bei Zugreisen innerhalb der Schweiz?
Reist man in der Schweiz, muss man zum Beispiel bedenken, dass nicht alle Züge rollstuhlgängig sind und man sich im Vorfeld melden muss, damit man Hilfe beim Ein- und Aussteigen erhält.

Sie bieten Kurse für Betroffene und Angehörige an. Welches Ziel wird mit diesen Kursen verfolgt und wie wichtig sind diese für den richtigen Umgang mit den Betroffenen?
Ich denke, diese Kurse sind sehr wichtig für die Betroffenen und auch die Angehörigen. Man muss lernen, welche Bedürfnisse die Person hat und wie man richtig damit umgeht. Zusätzlich lernt man hier den richtigen Umgang mit dem Rollstuhl – was darf man, was sollte man nicht tun oder wie überwindet man Treppen richtig. Oft neigen Angehörige dazu, dass sie der betroffenen Person alles abnehmen und helfen wollen. Im Normalfall wird man aber von den Patienten angeleitet, indem sie ihre Bedürfnisse und die benötigten Hilfen klar kommunizieren und einfordern. Der Erfahrungswert zeigt, dass die Patienten sehr selbstständig sind und sich melden, sobald sie Hilfe benötigen. Ein weiterer wichtiger Teil des Kurses ist das Erkennen und Lesen von Symptomen. Es kann beispielsweise sein, dass der Patient Bauchschmerzen hat, diese aber nicht fühlen kann. Hier ist es wichtig, dass die Symptome auch richtig verstanden und gelesen werden können, damit es nicht zu gesundheitlichen Folgen kommt.


Das Schweizer Paraplegiker-Zentrum ist eine private, landesweit anerkannte Spezialklinik für die Erstversorgung, Akutbehandlung, ganzheitliche Rehabilitation von Querschnittgelähmten sowie Menschen mit querschnittähnlichen Syndromen. Im SPZ stehen 150 Betten inklusive Intensivpflegestation zur Verfügung. Seit der Eröffnung 1990 wurden über 250’000 ambulante und stationäre Behandlungen durchgeführt. Ab Ende 2020 stehen dafür 190 Betten zur Verfügung.

Verwenden Sie diese Informationen nicht als alleinige Grundlage für gesundheitsbezogene Entscheidungen. Fragen Sie bei gesundheitlichen Beschwerden Ihren Arzt oder Apotheker. Surfen im Internet ersetzt den Arztbesuch nicht.

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