Essstörungen: Soziale Medien spielen heutzutage eine grosse Rolle

Essstörungen


Ernährung

Quelle: TCS MyMed


B. Isenschmid, SRO AG

Essen sollte eine genussvolle und wohltuende Aktivität sein – jedoch sieht die Realität oft anders aus. Dr. med. Bettina Isenschmid, MME und Chefärztin ZESA (Zentrum für Essstörungen und Adipositas) der Spital Region Oberaargau AG, erklärt, wie es zu Essstörungen kommen kann und worauf man unbedingt Acht geben sollte.

Frau Isenschmid, was sind die häufigsten Arten von Essstörungen und wie unterscheiden sie sich voneinander?
Die häufigsten Essstörungsformen sind die Bulimie und die Binge-Eating-Störung. Bei der Bulimie handelt es sich um eine Essstörung, welche durch regelmässig wiederkehrende Essattacken mit nachfolgendem Kompensationsverhalten gekennzeichnet ist. Das häufigste Kompensationsverhalten ist Erbrechen – es kann jedoch auch zum Missbrauch von Abführmitteln, kürzeren strikten Fastenphasen oder übermässigem Training kommen.

Und was versteht man unter Binge-Eating?
Bei der Binge-Eating-Störung kommt es zu wiederkehrenden Essattacken mit dem Gefühl eines Kontrollverlustes, es fehlt jedoch das Kompensationsverhalten. Daher kommt es mittel- und längerfristig zu einer Gewichtszunahme bis hin zur Adipositas.

Gib es noch weitere Formen?
Als dritte und seltenste Essstörungsform kennen wir noch die Anorexia nervosa, zu Deutsch Magersucht, welche vor allem im Jugendalter auftritt. Wesentliche Kriterien der Anorexie sind striktes Fasten und damit ein selbst herbeigeführter Gewichtsverlust bis zum Untergewicht.

Welche Faktoren können zu einer Essstörung führen?
Essstörungen sind nie nur durch einen einzigen Faktor verursacht. Zu nennen ist eine genetische Grundlage mit Unterschieden im Energiehaushalt und im Hunger- und Sättigungsempfinden. Weiter sind es gewisse psychologische Voraussetzungen wie hoher Leistungswille, Perfektionismus sowie Schwierigkeiten, Gefühle angemessen wahrzunehmen und auszudrücken. Hinzu kommen eine eher ängstlich geprägte Gefühlsvermeidung sowie schlussendlich soziale Faktoren wie Gewalt und Missbrauch in der Vergangenheit, widersprüchliche Leistungsanforderungen unserer Gesellschaft sowie ungesunde Rollenvorbilder wie Schönheits-, Schlankheits- und Leistungsideale.

Gibt es weitere Faktoren?
Vor allem im Bereich des Binge-Eating und der Adipositas sind auch ungünstige Lebensbedingungen wie Verringerung der körperlichen Aktivität sowie das Übermass an Nahrungsangeboten mit verantwortlich.

Wie erkennt man, ob jemand an einer Essstörung leidet und welche Anzeichen sollte man beachten?
Allen Essstörungen gemeinsam ist die ständige gedankliche und verhaltensmässige Beschäftigung mit Essen, Ernährung, Figur und Gewicht. Es werden starke Gewichtsschwankungen von Untergewicht über Normalgewicht bis Übergewicht beobachtet. Die Betroffenen sind ständig daran, irgend eine Diät zu halten, kritisieren sich selbst – auch unabhängig vom Gewicht – für ihr Aussehen, beginnen, soziale Gelegenheiten zu meiden, die mit Essen verbunden sind, schliesslich sind die Themen Essen und Gewicht so vorherrschend geworden, dass sich Betroffene anderen Interessen nicht mehr annehmen können und sich z. B. von Beziehungen, Arbeit oder Ausbildung immer mehr zurückziehen. Hierdurch kommt es auch zu körperlichen Auswirkungen der Essstörung im Sinne einer Fehl- oder Mangelernährung.

Auswirkungen auf den Körper bei Adipositas

  • Hoher Blutdruck
  • Störungen des Zucker- und Fetthaushaltes
  • Gicht
  • Überlastungen des Skeletts mit Arthrosebildung
  • Häufigkeit gewisse Krebsarten steigt

Welche Auswirkungen haben Essstörungen auf die körperliche Gesundheit?
Unser Körper ist allgemein sehr widerstandsfähig, da in der früheren Zeit der Menschheitsgeschichte die Mangelernährung eigentlich fast unvermeidlich war. Bei einem längeren Andauern des Zustandes versucht jedoch der Körper, Energie einzusparen, indem er den Puls verlangsamt sowie den Blutdruck und die Körpertemperatur senkt. Infolge von ungenügendem Essen, Erbrechen oder Missbrauch von Abführmitteln kommt es zu hartnäckigen Verdauungsproblemen wie Blähungen, saurem Aufstossen, Bauchschmerzen und Stuhlunregelmässigkeiten.

Was passiert, wenn jemand regelmässig erbricht?
Durch das Erbrechen gehen wertvolle Mineralstoffe verloren, die dann zu einer Beeinträchtigung der Herz- oder Nierenfunktion und in gewissen Fällen sogar zum Tod führen können. Längerfristig leidet auch unser Skelett darunter, es kommt zur Ausbildung einer Osteoporose, und der Hormonmangel führt zu Fruchtbarkeitsstörungen.

Wie beeinflussen Essstörungen die psychische Gesundheit und das emotionale Wohlbefinden der Betroffenen?
Die Betroffenen sind eigentlich ständig besorgt um ihre Figur, ihr Gewicht und ihr Essverhalten. Sie wirken daher gehemmt, ängstlich, zeitweise niedergeschlagen oder auch depressiv. Die Betroffenen werten sich ständig für ihr Essverhalten und ihre Figur ab, versuchen dies durch noch striktere Diät zu halten oder durch noch mehr Körpertraining auszugleichen. Schliesslich wird das Essverhalten von einer an sich genussvollen Aktivität in unserem Leben zu einem Zentrum des Leidens und der Angst. Trotzdem warten viele Betroffene lange, bis sie sich bei einer Ärztin oder einer spezialisierten Fachstelle melden, weil sie sich für ihr Verhalten häufig schämen und sich als Versager fühlen.

Soziale Medien spielen heutzutage eine grosse Rolle, wenn es darum geht, das Verhalten von jungen Menschen, aber mittlerweile auch von älteren Menschen, zu prägen.
Dr. med. Bettina Isenschmid, Spital Region Oberaargau AG

Welche Rolle spielen soziale Medien und der Druck zur Körperperfektion bei der Entstehung von Essstörungen?
Es wird häufig ein perfekter und leistungsfähiger Körper vorgezeigt, es werden allerlei Tipps gegeben, wie man in kurzer Zeit viel Gewicht abnehmen oder fit werden kann. Diese Vorgaben sind natürlich nicht realistisch, doch können dies Menschen, die aufgrund ihrer Figur oder ihres Essverhaltens in Verzweiflung geraten sind, oft nicht durchschauen. Sie versuchen trotzdem und mit zunehmend ungesunden Methoden diese Idealbilder zu erreichen.

Wie kann man Menschen unterstützen, die an einer Essstörung leiden, und welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
Das Wichtigste ist, die Beobachtungen, die man zum Essverhalten oder auch sonst zum Verhalten der vermutlich betroffenen Person gemacht hat, zu sammeln und sie dann damit respektvoll zu konfrontieren. Keine Angst, eine Essstörung kann man nicht herbeireden, die allermeisten Betroffenen sagen in der ersten Konsultation, dass es ihnen dabei geholfen hat, sich zu melden, als sie von einer Vertrauensperson darauf angesprochen wurden. Allgemein muss gesagt werden, dass die Prognose mit zunehmender Dauer der Erkrankung schlechter wird. Ansonsten soll man Menschen mit Essstörungen nicht nur unter diesem Aspekt sehen, sondern vielmehr die gesunden Anteile stärken. Unterstützung benötigen jedoch auch die Angehörigen. Eltern und auch Freunde sind oft ebenso verzweifelt wie die Betroffenen selbst, weil sie der zunehmenden Abmagerung und der damit ansteigenden Lebensgefahr hilflos zusehen müssen.

Gibt es bestimmte Risikogruppen oder Altersgruppen, die anfälliger für Essstörungen sind?
Früher sagte man, dass vor allem Kinder und Jugendliche im Risiko stehen, an eine Essstörung zu erkranken. Heute ist jedoch bekannt, dass Menschen jeden Alters eine Essstörung entwickeln können. Risikogruppen findet man auch bei Personen, bei denen der Körper im Zentrum ihres Lebens steht wie Sportler oder Menschen in repräsentativen Berufen. Ebenso sind Suchtkranke und Menschen mit Stoffwechselstörungen und Unverträglichkeiten, welche eine Diät erfordern, erhöht betroffen.

Welche Rolle spielt das Umfeld (Familie, Freunde, Schule) bei der Prävention und Behandlung von Essstörungen?
Wie bereits erwähnt, ist das Umfeld meist mitbetroffen. Die Angehörigen und Freunde versuchen zu helfen und fühlen sich doch häufig hilflos und verzweifelt. In der Prävention haben die Schulen, aber auch andere Bereiche, wo Jugendliche zusammenkommen, eine sehr wichtige Funktion. Zentral ist es, die Vielgestaltigkeit und Individualität des menschlichen Körpers aufzuzeigen und jeden Menschen als ein geschätztes wertvolles Individuum zu sehen. In verschiedenen Schulfächern können Strategien erarbeitet werden, wie man in Momenten der Verunsicherung, wie sie z. B. in der Pubertät ja normal sind, auch anders reagieren kann, als mit einer Diät oder einer Intensivierung des Körpertrainings.

Wie wichtig ist eine multidisziplinäre Herangehensweise bei der Behandlung von Essstörungen? Welche Fachkräfte sollten daran beteiligt sein?
Die multidisziplinäre Herangehensweise bei der Behandlung von Essstörung ist heute der goldene Standard oder sollte es mindestens sein. Fachkräfte aus Medizin, Psychiatrie, Körper- und Physiotherapie, Ernährungsberatung und auch anderen Disziplinen sind beteiligt. Bei Menschen mit einer krankhaften Adipositas kann schliesslich auch die bariatrische Chirurgie hilfreich sein. Diese sollte jedoch nie als erstes Mittel gewählt werden. In der Adipositas-Behandlung sind heute auch einige Medikamente bekannt, welche die Sättigung verbessern und somit zu einer Gewichtsabnahme führen. Jedoch wirken diese Medikamente nur, solange sie eingenommen oder gespritzt werden, deshalb ist eine nachhaltige Veränderung des Verhaltens trotzdem unabdingbar.

Gibt es spezifische Herausforderungen bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Essstörungen im Vergleich zu Erwachsenen?
Da sich der kindliche und jugendliche Körper noch im Wachstum und in der Reifung befindet, wirken sich schwere Essstörungen besonders gravierend aus. So kann bei einer schweren Magersucht beispielsweise das Wachstum zurückbleiben, das Skelett kann schon früh geschädigt werden, und es kann auch zum Ausbleiben der Pubertät kommen. Beim Übergewicht im Kindes- und Jugendalter kommt es schon früh zu entsprechenden Folgekrankheiten wie Diabetes, Gicht oder Arthrosen – Krankheitsbilder die man früher nur im Erwachsenenalter kannte. Auch muss in dieser Altersgruppe die Familie zwingend miteinbezogen werden.

Welche Rolle spielt die Ernährung bei der Genesung von Essstörungen und wie kann eine gesunde Beziehung zum Essen wiederhergestellt werden?
Wie bereits erwähnt, ist die Ernährungsberatung eine besonders wichtige Disziplin in der Behandlung von Essstörungen. Die Betroffenen haben jeden gesunden Bezug zur Ernährung verloren – entweder überessen sie sich ständig, spüren kein Hungergefühl und auch keine Sättigung mehr oder sie fasten ständig, unterdrücken das Hungergefühl, haben Angst vor der Nahrung und überschätzen auch die Nahrungsmenge. Deshalb ist die allmähliche einfühlsame Vermittlung eines gesunden und bedarfsdeckenden Essverhaltens zentral wichtig.

Welche Probleme treten häufig auf?
Es verlangt ein besonderes Fingerspitzengefühl, da Menschen mit Anorexie oder Bulimie ständig Angst vor der Gewichtszunahme haben, Menschen mit Übergewicht ihre Ziele oft unrealistisch hoch ansetzen und in kurzer Zeit sehr viele Kilogramm abnehmen wollen. Hier ist es wichtig, Kenntnisse über den sogenannten Jojo-Effekt zu vermitteln, welcher bei rascher Gewichtsabnahme häufig zu einer ebenso raschen und meist noch grösseren Gewichtszunahme führt.

Wie kann die Familie unterstützend sein, ohne Druck auszuüben oder zu stigmatisieren?
Da Angehörige häufig Angst haben, dass sie bei einer Essstörung nicht wirklich helfen können und das Leben der Betroffenen in Gefahr ist, wenden sie sich nicht selten hilflos ab oder versuchen übermässig Druck auszuüben. So kann es sogar vorkommen, dass Gespräche am Esstisch gewaltsam ausarten, es beim Essen nur noch zu Streitigkeiten kommt und sich schliesslich die ganze Familie in der Essstörung gefangen fühlt. Bei Jugendlichen, die noch zu Hause leben, ist es enorm wichtig, dass die Eltern sich auf eine Linie einigen und diese auch vertreten und sich bei Bedarf auch selber Hilfe holen.

Wie sieht es im Freundeskreis aus?
Im Freundeskreis oder auch im Arbeitsumfeld ist es hilfreich, wenn eine Kontaktperson sich regelmässig bei der Betroffenen erkundigt, wie es ihr geht und ob sie sich Hilfe geholt hat, ansonsten soll jedoch die betroffene Person ganz normal behandelt und in alle Abläufe und Aktivitäten eingebunden werden. Es ist ganz wichtig, dass sich die Betroffenen weiterhin integriert und akzeptiert fühlen, ansonsten kann der Wille, wieder gesund zu werden, darunter leiden oder gar verloren gehen.


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