Autofahren trotz Analphabetismus. Geht das?



Reisemedizin

Quelle: TCS MyMed


Frau Dr. Serena Barberis vom TCS-Careteam spricht mit uns über Analphabetismus und zu welchen Problemen er in Bezug auf das Autofahren führen kann.

Frau Dr. Barberis, wie wird Analphabetismus definiert? Wird damit einfach nur die Unfähigkeit zu lesen bezeichnet?
Von Analphabetismus sprechen wir bei Erwachsenen, die nie oder nur selten eine Schule besucht und weder Lesen noch Schreiben gelernt haben. Er ist vom Illettrismus zu unterscheiden, der früher als «funktionaler Analphabetismus» bezeichnet wurde und sich auf erwachsene Personen bezieht, die trotz Schulbesuchs nicht oder nur unzureichend lesen, schreiben und rechnen können.

Bedeutet dies, dass Analphabeten generell keinerlei Buchstaben, Zeichen oder Logos entziffern können?
Nein, gemäss der erwähnten Definition ist es durchaus möglich, dass Analphabeten gelernt haben, einfache Buchstaben, Zeichen und Logos, die ja letztlich nur Symbole sind, zu erkennen und ihnen die korrekte Bedeutung zuzuordnen.

Wie hoch wird der Anteil der Bevölkerung, der davon betroffen ist, geschätzt?
Im Jahr 2003 ergab eine statistische Erhebung, der «Adult Literacy and Lifeskills Survey» (ALL), dass in der Schweiz etwa 800 000 Menschen Schwierigkeiten beim Lesen und Rechnen haben. Das entspricht einem Anteil an der Bevölkerung von beinahe 11 Prozent. In der französischen Schweiz sind 210 000 Menschen vom Illettrismus oder Analphabetismus betroffen.

Hängt das hauptsächlich mit der Einwanderung zusammen?
Nein, fast die Hälfte dieser Menschen ist in der Schweiz geboren und hat hier die Pflichtschule absolviert. 70 Prozent der Betroffenen sind französischsprachig. Im kommenden Jahr soll eine neue internationale Studie aufgelegt werden, deren Ergebnisse 2023 veröffentlicht werden.

Lässt sich ein Unterschied zwischen den Geschlechtern feststellen?
Ja, laut den Ergebnissen der ALL-Studie schneiden die Frauen im Vergleich zu den Männern schlechter ab. Dies steht im Widerspruch zu den Ergebnissen der PISA-Studie von 2020 (PISA – «Programme for International Student Assessment»), bei der die Mädchen die Jungen, insbesondere in der Lesekompetenz, deutlich übertreffen.

Was sind die Hauptursachen für Analphabetismus?
Der Analphabetismus oder der Illetrismus – wenn man die medizinischen Ursachen einmal ausklammert – tritt nach wie vor gehäuft in Ländern auf, in denen die Bildung der breiten Öffentlichkeit durch bewaffnete Konflikte, Hungersnöte, Klimakatastrophen oder eine fehlende Schulpflicht behindert wird.

Aber gibt es nicht auch in der Schweiz Analphabetismus?
Das ist richtig. Wie die ALL-Studie zeigt, ist das Phänomen des Illettrismus selbst in stabileren Ländern noch immer zu finden.

Wie ist das zu erklären?
Es sind nach wie vor Gründe wie Scham, mangelndes Selbstvertrauen oder die Angst, womöglich zu alt zum Erlernen von etwas Neuem zu sein, die die Betroffenen zögern lassen. Und wenn sie dennoch den Mut aufbringen, wieder Unterricht zu nehmen, ist die Angst, erneut einen Misserfolg zu erleben oder mit dem Unterrichtstempo nicht mithalten zu können, allgegenwärtig. Hinzu kommen verschiedene individuelle Faktoren, wie z. B. eine veränderte Lebenssituation (Krankheit, Scheidung, Umzug), mangelnde Praxis, aber auch eine mangelnde innere Identifikation mit der Schriftkultur.

Sind Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachregionen der Schweiz festzustellen?
Innerhalb der Schweiz unterscheiden sich die regionalen Durchschnittswerte kaum, auch wenn einige Unterschiede statistisch signifikant sind. Die Deutschschweiz übertrifft die anderen Regionen insbesondere im Alltagsrechnen, aber auch in den Lese- und Schreibkompetenzen. Die französische Schweiz wiederum schneidet im Problemlösen geringfügig besser als die anderen Regionen ab.

Kann man den eigenen Analphabetismus verbergen?
Ja. Illettristen sind oft voller Scham und leiden unter ihrer Situation. Deshalb sind sie häufig bestrebt, dieses Manko vor anderen geheim zu halten. Dazu bedienen sie sich verschiedener Strategien. So täuschen sie etwa eine Sehschwäche, eine vergessene Brille, eine Hörschwäche, mangelnde Sprachkenntnisse oder eine schlechte Handschrift vor («Könnten Sie das Formular für mich ausfüllen? Ihre Handschrift ist besser als meine.»). Oder sie nehmen das Formular mit nach Hause. Oder sie lassen sich stets von jemandem begleiten, indem sie vorgeben, Hilfe zu brauchen, weil sie müde sind oder sich nicht konzentrieren können.

Was sind die grössten Hindernisse, die man als Analphabet im Alltag zu überwinden hat?
Wer Probleme mit dem Schreiben, Lesen und Verstehen hat, wird grosse Schwierigkeiten haben, einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Es ist auch schwieriger geworden, eine Arbeitsstelle zu behalten, da sich die Anforderungen der modernen Arbeitswelt immer schneller wandeln.

Und wenn man eine Arbeitsstelle gefunden hat, sind dennoch nicht alle Probleme gelöst ...
Für Erwachsene mit Illettrismus ist der Einstieg in die Arbeitswelt oft schwierig. Wenn sie den geschafft haben, stellt die Kommunikation innerhalb des Unternehmens sie vor neue Herausforderungen. Infolgedessen haben sie z. B. ein erhöhtes Unfallrisiko, was auch zu einer höheren Absenz führt.

Und die Technologie macht die Sache noch komplizierter...
In der Tat, Illettrismus und technischer Fortschritt (Automatisierung von Anlagen und Geräten, Arbeiten am Computer, Digitalisierung) hängen eng zusammen, da Schriftsachen (Qualitätsnormen, Sicherheitshinweise, Formulare usw.) einen immer höheren Stellenwert einnehmen.

Kommen somit nur die «niederen» Berufe in Frage?
Nein, denn selbst in den am schlechtesten bezahlten Berufen mit den geringsten Eignungsanforderungen müssen Regelungen, Verfahren, Protokolle und Sicherheitseinweisungen verstanden und beachtet werden, die allesamt schriftlich verfasst sind.

In Bezug auf das Autofahren wäre die erste Hürde die Theorieprüfung. Kann ein Analphabet diese überhaupt schaffen?
Personen mit Lese- und Schreibschwächen sollten sich an den Verein «Lire et Écrire» wenden, der feststellen kann, ob  tatsächlich Illettrismus vorliegt, z. B. aufgrund eines Schulabbruchs. Manchmal wird auch ein ärztliches Attest verlangt, um eine medizinisch begründete Fahruntauglichkeit auszuschliessen.

Analphabeten können sich also zur Prüfung anmelden?
Auf dieser Grundlage – und nur, wenn der Illettrismus durch «Lire et Écrire» bestätigt wurde – dürfen sie sich zur Theorieprüfung anmelden. Bei der Anmeldung kann man dann eine entsprechende Bescheinigung vorlegen.

Verläuft die Prüfung im Standardverfahren?
Nein, die theoretische Prüfung wird einzeln und in Begleitung eines Mitarbeitenden der zuständigen kantonalen Behörde – für Genf wäre das die «Direction Générale des Véhicules» – abgelegt. Die Begleitperson hilft dem Prüfling beim Verstehen der Fragen und der vorgeschlagenen Antworten.

Handelt es sich somit um eine vereinfachte Prüfung?
Nein, die Prüfung wird lediglich formal angepasst. Sie ist übrigens ausschliesslich Menschen mit einer Illettrismus-Problematik vorbehalten. Alle anderen, z. B. Ausländer, die noch kein Französisch sprechen, haben diese Option nicht, sie können jedoch für die Basistheorieprüfung zwischen vier Sprachen wählen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch.

Kann man sich nach der bestandenen Fahrprüfung bestimmte Strategien für das Autofahren erarbeiten?
Ja.

Man darf dann also Auto fahren, obwohl man nicht lesen kann?
Selbstverständlich. Für das Erteilen der Fahrerlaubnis gibt es im Hinblick auf Personen mit Lese- und Schreibschwächen keine Einschränkung. Mit einer erfolgreich abgelegten Theorie- und Praxisprüfung weist man nach, dass man die an Autofahrer gestellten Anforderungen erfüllt und keine Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellt.

Hatten Sie in der Praxis schon einmal mit einem solchen Fall zu tun?
Dabei ging es zwar nicht um das Aufofahren, aber ich hatte kürzlich einen Patienten mit einem Illettrismus-Problem. Er wurde in eine Klinik eingeliefert und war nicht in der Lage, das Formular zur Entbindung von der Schweigepflicht zu verstehen und zu unterschreiben. Somit durften medizinische Daten nicht an Dritte weitergegeben werden, die jedoch für die Organisation eines sicheren Krankentransports unerlässlich sind. Deshalb musste der Sohn aus der Schweiz anreisen und seinem Vater bei den verschiedenen Formalitäten behilflich sein.


Quellen:

  1. Verein «Lire et Écrire» – Schweiz
  2. Bundesamt für Statistik – Schweiz
  3. Office cantonal des véhicules (Strassenverkehrsamt) – Genf
  4. Département de l’instruction publique, de la formation et de la jeunesse (DIP – Departement für Erziehungswesen, Bildung und Jugend),  Service de la recherche en éducation (SRED – Abteilung für Bildungsforschung) – Genf
  5. UNESCO.org


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